Markt und Wettbewerb

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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In vielen europäischen Staaten gibt es derzeit Versuche, den (Sozial-)Staat zu „modernisieren“, staatliche Leistungen einzuschränken oder neu zu organisieren (vgl. Dahme/Wohlfahrt, in diesem Band), indem die private Verantwortung für das eigene Leben in den Vordergrund gestellt wird. Die Tendenz geht in nahezu allen europäischen Ländern vom marktkorrigierenden zum „aktivierenden“ oder „investiven“ Staat, was – bei Beibehaltung oder gar Ausweitung einer politischen (Letzt-)Verantwortung, wie sie z. B. in der Formel vom „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (14. KJB 2012) zum Ausdruck gebracht ist – sowohl Auswirkungen hinsichtlich der Wohlfahrtsproduktion wie der Organisation bzw. Koordinierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zeitigt.

Aufbauend auf auch kulturell verankerten differenten Traditionen unterschiedlicher Wohlfahrtsregime, in die Soziale Arbeit und die Kinder- und Jugendhilfe inkorporiert zu denken sind (vgl. White 2003), verändern sich die Produktionsbedingungen und -ordnungen des sog. „welfare-mix“. Innerhalb der von diesem analytischen Ansatz her beschriebenen vier Bereiche der pluralistischen Wohlfahrtsproduktion (Staat, Markt, Zivilgesellschaft/tertiärer Sektor; private Gemeinschaften) mit je unterschiedlichen Handlungsrationalitäten verschiebt sich das Gewicht zunehmend in Richtung Markt/Wettbewerb und privater Selbst(-vor-)sorge. Bringt der 11. Kinder- und Jugendbericht (KJB 2002) den erstarkten Wettbewerb im Feld der Kinder- und Jugendhilfe primär mit der Entwicklung der Qualitätsdiskussion in Verbindung und anstelle des erwartbaren Preiswettbewerbs die sich als hilflos erweisende Vorstellung eines „fachlich regulierten Qualitätswettbewerbs“ in Stellung, verortet der 14. Kinder- und Jugendbericht (zitiert als 14. KJB) die feststellbaren Veränderungen im Kontext eines veränderten Sozialstaatsverständnisses (vgl. 14. KJB: 67–77): Während der „auf den Prinzipien von Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit fußende ‚versorgende‘ Sozialstaat die Rolle des öffentlichen Sektors im wohlfahrtspluralistischen Arrangement“ betont und sich nicht auf die „Vorgabe von Zielen, Leistungsstandards und Durchführungsbestimmungen“ beschränkt, sondern selber auch wohlfahrtsstaatliche Leistungen in größerem Umfang produziert, „überlassen der aktivierende und der sozialinvestive Sozialstaat die Durchführung von Leistungen in hohem Maße den nicht-staatlichen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion. Der aktivierende Staat – insbesondere in seiner Variante des ‚regulierenden‘ Staates – konzentriert sich weitgehend auf seine Gewährleistungsfunktion, setzt also Standards …, ist aber bestrebt, Finanzierungsbeiträge nicht-staatlicher Systeme zu aktivieren und die Durchführungsfunktion weitgehend auf Markt, Zivilgesellschaft und Gemeinschaften zu delegieren“ (14. KJB: 77). Dies trifft weitestgehend auch für seine Form als sozialinvestiver Sozialstaat zu, der allerdings einen Schwerpunkt im Bereich der Bildungsinvestitionen setzt, um zu vermehrter Beschäftigungsfähigkeit und Integration in das Erwerbsleben beizutragen. Der 14. KJB (vgl. ebd.: 73) rekurriert mit diesen Ausführungen implizit auf die nahezu konkurrenzlos bedeutsame Möglichkeit des politischen Systems/des Staates, „beim intentionalen Design und Redesign von Governance-Regimen … selbst zu bestimmen, welches Gewicht ihm bei der gesellschaftlichen Integration zukommt. Dies hat man bspw. in den letzten zwanzig Jahren am sog. ‚Neoliberalismus‘ vorgeführt bekommen, … (eine) politisch inszenierte Gewichtsverlagerung vom ‚Staat‘ zum ‚Markt‘“ (Lange/Schimank 2004: 28).

Begonnen hatte der Wechsel zu einer Transformation des Sozialstaats in Richtung von Gerechtigkeitsvorstellungen nach marktwirtschaftlichen Mustern im Grunde schon mit dem Regierungswechsel 1982 und der von H. Kohl ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“ und einer „Politik der Erneuerung“ gegenüber den „unkorrigiert überzogenen Ansprüche(n) an den Staat und die soziale Sicherung“ (vgl. Regierungserklärung Kohl 1983). Dementsprechend lautete die „Frage der Zukunft, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können“ (Heissler 1983: 28, zit. nach Oechler 2009: 21). Diese Frage wurde unter Bezug auf internationale konservative Reformpolitiken, die Anfang der 90er-Jahre unter den Stichworten Thatcherismus bzw. Reaganomics umgesetzt und dann in der sozialdemokratischen Weiterführung als „Politik des dritten Weges“ fortgesetzt wurden (vgl. Peters 2008a), dahingehend radikalisiert, wie viel Sozialstaat Nationalstaaten sich zumal unter dem Druck von Globalisierungsprozessen noch leisten könnten. Palumbo umschreibt die in Gang gesetzte Entwicklung als „one of the most ambitious social and political experiment carried out in the western world this century. The ultimate goal of the experiment was to ‚roll back the frontiers of the state‘; that is, to reduce the power of the state in society by reforming the welfare state and above all, the public sector and public administration (and its professionals – F.P.). Promoting this social experiment was a blend of philosophical, political, and economic theories supplied by a composite movement identified as the New Right.“ (Palumbo 2006,127, zit. nach Düring 2011: 37) Vor dem Hintergrund der historischen deutschen Entwicklungslinien gestaltet sich dieser avisierte Umbau unter Rückgriff auf zum Teil „linke“ Kritiken am bürokratisch-herrschaftlichen Wohlfahrtsstaat und unter Verweis auf seine vorgeblich mangelnde Leistungsfähigkeit und „Passivierung“ der Adressat_ innen weniger radikal als in den „liberalen“ angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten. Die „Dienstleistungsqualität“, verbunden mit wettbewerblichen Strukturen, wurde als Legitimationsfigur aufgewertet, „ohne jedoch die reale Bedeutung des öffentlichen Sektors für moderne Gesellschaften grundsätzlich in Abrede zu stellen“ (Schröter/Wollmann 2001: 71, zit. nach Oechler 2009: 24; vgl. auch 14. KJB – a. a. O.). In diesem Dienstleistungsdispositiv soll „(d)er Bürger … in der Rolle des Konsumenten durch die Einführung von Wahlmöglichkeiten gestärkt und auf diese Weise der verwaltungsinterne und -externe Wettbewerb erhöht werden. Die Stärkung der Konsumentensouveränität ist im Kontext dieser Überlegungen weniger ein (demokratiepolitisch anvisiertes) Ziel als vielmehr ein Instrument, um dem Marktmodell zum Durchbruch zu verhelfen“ (Olk u. a. 2003, XXXIV, zit. nach Oechler – a. a. O.: 71).

Im engeren Sinne bedeutsam geworden sind die Ausflüsse der Diskussionen um ein „New Public Management“, eine Diskussion um die Reform öffentlicher Verwaltung und den Abbau staatlicher Tätigkeit zu Gunsten privater Dienstleistungserbringer und neuen Formen von „public-private-partnership“, „Contracting-out“ sowie der Etablierung von mehr Wettbewerb und „Quasi-Märkten“ und damit seit ihren Anfängen eine Fokussierung der Reformvorhaben auf das Ziel ihrer vermehrten Marktgängigkeit und Warenförmigkeit. In Deutschland wurde diese Diskussion im Wesentlichen von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) unter dem Begriff der „Neuen Steuerung“/des „Neuen Steuerungsmodells“ (NSM) eingeführt und in der Folge hegemoniemächtig ausgebaut.

In der Fortführung des Qualitätsdiskurses in der Jugendhilfe rücken dabei im Zusammenhang der Versuche (von mehr) marktförmiger Steuerung unter den Bedingungen von „value for money“ zunehmend der Ergebnisaspekt sowie Fragen der Effektivität und Effizienz in den Vordergrund. In engem Zusammenhang, wenngleich nicht (völlig) identisch, mit dieser Entwicklung gesehen werden können auch die verschiedenen Varianten von „Case Management“, die der Jugendhilfe als Qualifizierungsstrategie in fachlicher Hinsicht und zur Steigerung von Effektivität und Effizienz anempfohlen werden.

Die Denkmuster der Ökonomie greifen, und in Gang gesetzt wird ein „Prozess der betriebswirtschaftlichen Umstrukturierung bzw. Neusteuerung der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Der zentrale Fokus dieses Ökonomisierungsprozesses gilt einer Reduzierung des Einsatzes der Mittel und zielt auf eine Privatisierung des Feldes“ (Kessel 2002: 1117). In dieser Definition klingt ein fundamentaler Wechsel des ökonomischen Bezugsrahmens an, auf den schon H. Giesecke (2001) hingewiesen hat. War Soziale Arbeit vormals in einen volkswirtschaftlichen Begründungszusammenhang eingebunden und legitimierte sich aus dem Beitrag sozialpädagogischer Angebote zum Wohlbefinden des Gemeinwesens, so ist die gegenwärtige Diskussion „primär betriebswirtschaftlich bestimmt“ (Giesecke 2001: 18). Während es einer volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise Sozialer Arbeit um den Gesamtnutzen für das System geht, verkleinert sich mit dem betriebswirtschaftlichen Blick die Perspektive auf die möglichst effektive Gestaltung der Einzelangebote, und zwar in Konkurrenz zu anderen Anbietern. Es ist nunmehr die Form des Marktes, die als übergreifendes Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient. Dem korrespondiert ein Menschenbild, das dem unternehmerischen Verhalten ökonomisch-rationaler Individuen entspricht bzw. dieses herzustellen sucht und Subjekte – auch PädagogInnen und ihre Institutionen übrigens – zu einem diesbezüglichen Handeln zu bewegen.

Unterstellt wird im gesamten NPM-Diskurs eine größere Leistungs- und Innovationsfähigkeit von Markt/Wettbewerb gegenüber Staat/Hierarchie (nebst damit einhergehendem privilegierten Beziehungen zu „anerkannten Trägern“ der Wohlfahrtspflege), weshalb die entsprechenden Erbringungskontexte wohlfahrtsstaatlicher bzw. jugendhilfepolitischer Leistungen im Sinn von mehr Markt und Wettbewerb umzustrukturieren gesucht werden. Da Märkte nur im Modell staatsfrei funktionieren und unter sozialpolitischen Gesichtspunkten trotz (oder gerade wegen) der hier realisierbaren größtmöglichsten Freiheit systematisch Marktversagen erwartbar ist (vgl. 14. KJB: 67 f.), bleibt die Staatsbedürftigkeit dieser politisch inszenierten Märkte hoch und wird (s. o.) auch anerkannt. Eine der Folgen ist, dass Märkte unter dem Einfluss staatlicher Regulierungen zu „Wohlfahrtsmärkten“ umgeformt werden, mit der Konsequenz, „dass sich die auf diesen Märkten auftretenden Unternehmen bestimmten staatlichen Vorgaben und Standardsetzungen unterwerfen müssen, … freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe im Zuge der Integration in den Prozess der Erbringung öffentlicher Aufgaben Standards des öffentlichen Verwaltungshandelns übernehmen oder durch die Einführung von ‚Quasi- Märkten‘ durch neue Zuwendungsbestimmungen … gezwungen werden, aus der Privatwirtschaft kommende Management- und Handlungsstrategien zu übernehmen etc.“ (14. KJB: 69). Kurz: Es kommt zu vermehrt hybriden Organisationen, die versuchen müssen, unterschiedliche Handlungslogiken oder operative „Codes“, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen (s. o.) stammen, in ihren Leitbildern und Ablaufstrukturen zu integrieren (vgl. ebd.).

Dies darf man sich nicht harmonisch vorstellen, wie es das „gezwungen werden“ im vorstehenden Zitat ja schon andeutet. Vielmehr handelt es sich um so etwas wie – teilweise auch ideologisch umkämpfte – „feindliche Übernahmen“, allerdings nicht nur gegen den Willen von außen, sondern auch durch aktive „Einverleibung“ fremder Codes durch Akteure des infrage stehenden Teilsystems, hier der Kinder- und Jugendhilfe selbst (vgl. Schimank 2006: 76 ff.). Neben der quasi immer stattfindenden Strategie des Versuchs des Einverleibens von Ressourcen fremder Systeme für je eigene Zwecke und dem Aufdrängen von Programmen, das schon des Längeren und oft thematisiert worden ist als z. B. „Verrechtlichung“ oder auch „Verwissenschaftlichung“ von „immer mehr“ gesellschaftlichen Bereichen (oder Teilsystemen), vollzieht sich derzeit das Aufdrängen von Codes als „mehr oder weniger weitreichende Usurpation der Deutungshoheit über das Geschehen in einem anderen Teilsystem“ (Schimank 2006: 79), dadurch, dass z. B. – durchaus unter Mitwirkung oder Duldung des politischen Systems – Wissenschaft, Bildung, Erziehung oder gar die Politik selbst so begriffen werden, als handele es sich eigentlich um Wirtschaft*.

„Für die beteiligten Akteure bedeutet die Übertragung von Wettbewerbselementen auf die Steuerung sozialer Dienste eine Modifikation der Rollenzuweisungen: diejenige Seite, die die Leistungen finanziert (im allg. Staat, Land, Kreise und Kommunen), erhält die Rolle des Auftraggebers; diejenige Seite, die die Leistungen erbringt (öffentliche, gemeinnützige, gewerbliche Leistungserbringer), erhält die Rolle des Auftragnehmers und diejenige Seite, die die Leistungen konsumiert bzw. gebraucht, erhält die Rolle des Kunden bzw. Nutzers. Intendiert ist also gemäß dieser Konzeption in erster Linie eine klare Trennung zwischen Auftraggebern/Käufern und Auftragnehmern/Leistungserbringern – ein Sachverhalt, der unter dem Terminus purchaser-provider-split … bekannt geworden ist. Die Beziehungen zwischen Auftraggebern, die Leistungen kaufen und Auftragnehmern, die Leistungen erbringen, sollen grundsätzliche durch Kontrakte bzw. Verträge geregelt werden, in denen verbindliche Vereinbarungen darüber zu treffen sind, welche Spezifikation von Diensten und Leistungen, mit welchen (Qualitäts-)Eigenschaften, zu welchen Kosten erbracht werden sollen (Contracting, Kontraktmanagement).“ (Otto/Schnurr 2000: 6) Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen sind das diesbezügliche Instrumentarium (vgl. Peters 2011). „Die Antworten auf die Grundfrage … ‚wer soll welche Leistung erbringen‘ lassen sich so in einem veränderten – und von den Vertretern der Wettbewerbsorientierung als höherrational bewerteten – Kontext der Präferenzbildung einspeisen, in dem die Finanzierseite auf der Basis ökonomischer Daten und Kriterien erstens entscheiden kann, welche Dienste und Leistungen sie selbst erbringt und welche sie von externen Akteuren in ihrem Auftrag erbringen lässt (make or buy-Entscheidungen), und zweitens welchem der externen Leistungserbringer – die nun auf einer Art Markt miteinander konkurrieren – sie per Kontrakt einen entsprechenden Auftrag erteilt (Out-contracting). Schließlich sollen sich drittens angesichts einer erhöhten Verbindlichkeit und Rechenschaftspflichtigkeit (accountability) der vertraglichen Vereinbarungen über die gekauften Dienste und Leistungen und deren Eigenschaften, die durch präzise zu definierende Leistungsindikatoren zu ergänzen sind, der Finanziererseite neue Möglichkeiten eröffnen, die tatsächliche Leistungserbringung dichter zu kontrollieren.“ (Otto/Schnurr – ebd.)

Die öffentlichen Träger werden im Verhältnis zu den Freien Trägern (und anderen Anbietern von Jugendhilfeleistungen) in neuer, veränderter Rolle gestärkt.  Durch die Einführung der o.g. Mechanismen des „purchaser-provider-split“, Kontraktmanagements und der Einführung von Wettbewerbselementen sowie Qualitätssicherungs- oder Qualitätsentwicklungsvereinbarungen inklusive Controlling-Verfahren bestimmen zunehmend mehr die öffentlichen Träger Art, Ausmaß und Qualität der erzieherischen Hilfen. Die bisherige Form partnerschaftlicher Zusammenarbeit wird zumindest tendenziell abgelöst durch ein Verhältnis der Abhängigkeit freier Träger durch die „Kaufentscheidungen“ der öffentlichen Träger; finanzielle Aspekte treten in den Vordergrund und auch eine zunehmende Konkurrenz freier Träger untereinander – ggf. (schwach) abgemildert durch das, was in Deutschland je örtlich unterschiedlich unter „fachlich reguliertem Wettbewerb“ (11. KJB) verstanden wird.

Da das Gesamt solcher – nunmehr veränderter – organisationeller und programmatischer Praktiken (neben dem inkorporierten individuellem Fachwissen) für die sozialpädagogischen Fachkräfte als (überindividuelles) Deutungsmuster der Realität wie für die Realität fungiert, „verleihen (sie) der Wirklichkeit eine Deutung, indem sie sich auf die Wirklichkeit ausrichten und gleichzeitig diese Wirklichkeit auf sich ausrichten“. Sie sind „Repräsentationen der Realität und Anweisungen für sozialpädagogische Interventionen in diese Realität“ (Klatetzki 1993: 106 f.). Insofern ergeben sich auch auf der Mikroebene der Leistungserbringersituation in der Kinder- und Jugendhilfe Änderungen: „Wettbewerb, Markt, Management … liefern (aus Sicht der Befürworter – F.P.) nicht nur Anhaltspunkte für eine rationale Präferenzbildung auf der Ebene der Steuerung und der Allokation von Programmen und Diensten, sondern auch Instrumente zur Umsetzung von Entscheidungen auf der Ebene der Organisation mit entsprechenden Auswirkungen auf Arbeitsvollzüge und Handlungspraxen. (…)“. Die expliziten Annahmen lauten:

  • „Handlungskoordinierung auf der Basis präziser Zielformulierungen und Aufgabenbeschreibung ist rationaler als Handlungskoordinierung auf der Basis von Wissen, abstrakten Regeln (auch Ethiken) und Aushandlungssystemen (= Absage an Professionalität – F.P.).
  • Ergebniskontrolle auf der Basis objektiv quantifizierbarer Parameter ist rationaler als Ergebniskontrolle auf der Basis kommunikativer Abstimmungs- und Rückkoppelungsprozesse (= Absage an Verhandlungssysteme und Nutzerbestimmung – F.P.).“ (Otto/Schnurr 2000: 7)

Der Kinder- und Jugendhilfe und Sozialpädagogik werden auf Effizienz ausgerichtete Denk- und Handlungsformen verordnet, die versuchen, Hilfeprozesse im Sinne von eindeutigen Ziel-Mittel-Relationen zu standardisieren. Die gerade für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit konstitutive Betonung des biographischen Eigensinns von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hat in diesem Verständnis ebenso keinen Platz mehr wie eine nicht funktionalisierte Beteiligung. Dies zeigt sich exemplarisch im Umgang mit Zeit. „Bildungsprozesse haben ihre Eigenzeit. (…) Erziehung braucht also – in der Vermittlung der dem eigenen Zeitrhythmus folgenden Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben und den je individuellen und situativen Möglichkeiten – ins Offene hinein freie Zeiträume. Erziehung weiß um die Notwendigkeit des Offenen, nicht Planbaren“ (Thiersch 2004: 262), wird aber durch die beschriebenen Prozesse des „Übergreifen(s) von Formen der ökonomischen und administrativen Rationalität auf Lebensbereiche, die dem Eigensinn moralisch- und ästhetisch-praktischer Rationalität gehorchen“ (Habermas 1981: 539) zunehmend „kolonialisiert“. „Das Muster der rational strukturierten, beschleunigten, also zeitsparenden Effektivität bestimmt zunehmend auch die Erwartungen an Soziale Arbeit. Es verbindet sich mit den Zwängen zum Rationalisieren und Sparen und führt zu Arbeitsbedingungen, in denen die Geschwindigkeit der Erledigung als Kostenfaktor zum Zweck ihrer selbst wird; kurze Zeiten, Geschwindigkeit und Handlungsmuster, die im Umgang definiert, geplant und klar überschaubar sind, sind um ihrer selbst willen gut.“ (Thiersch – a. a. O.: 264) Hier spielen argumentative Versatzstücke der Diskussionen über Wirkungsorientierung und eine vermehrte s.m.a.r.t.e Hilfeplan-/Zielorientierung mit durchaus ambivalenten Folgen eine Rolle, insofern – in sozialer Hinsicht – mehr Verhalten und somit i. w. S. Messbares im Mittelpunkt steht, während zunehmend von „Verhältnissen“ abstrahiert wird, und – in zeitlicher Hinsicht – die Hilfedauer verkürzt wird, was als Beschleunigung interpretierbar ist.

Diese Entwicklungen gehen einher mit einer de facto Abwertung der Fachlichkeit des Feldes sowie der evtl. noch vorhandenen Anwaltsfunktion freier Träger für die Betroffenen sowie ein Anstieg des Nicht-Wissens, des Informationsverlustes öffentlicher Träger, wenn sie sich weitgehend aus der Erstellung sozialer Dienstleistungen zurückziehen. Dies erhöht allgemein die Transaktionskosten, weil es einen vermehrten Controlling-, Dokumentations- und, aufseiten der Leistungserbringer, Bewerbungsaufwand als i. d. R. nicht bezahlte Mehrarbeit sowie zunehmende berufliche Unsicherheiten des Personals, das sinnvollerweise ja nur noch für die jeweilige Dauer der Kontrakte angestellt wird, evoziert. Werden die Prinzipien des NPM konsequent sowohl verwaltungsintern wie -extern umgesetzt, ergeben sich, folgt man nicht der tendenziell präskriptiven Managementliteratur, eine Reihe weiterer, zumeist negativer Effekte, auf die hier nur pauschal verwiesen werden soll, wie z. B.

  • Verdichtung der Arbeit,
  • Absenkung von Standards und Leistungen (vgl. Alford 2004; Peters 2004; Peters 2008b),
  • Personalabbau im öffentlichen Dienst und (teilweise) Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen u. a. durch eine überproportionale Zunahme von (nicht gewollten) Teilzeitbeschäftigungen, Befristungen und von flexibilisierten Arbeitsverhältnissen sowie nicht tarifgerechter Entlohnungen (u. v. Seithe 2012; Vogel 2007),
  • Deckelung von Finanzen, Fallzahlen und Rechtsansprüchen (vgl. u. v. Seithe 2012),
  • Vermehrter Einsatz von Diagnosen/Diagnosetabellen statt – zeitaufwendigeres – „Aushandeln“ und Abwehr von Partizipationsansprüchen und -rechten (vgl. u. a. Pluto/Seckinger 2008),
  • Qualitätsverluste hinsichtlich der Hilfeplanung (vgl. u. v. Greschke/Klingler/Messmer 2010),
  • Verlust von Milieu- sowie Wertbindungen (vgl. Alford 2004),
  • Konkurrenz und Abschottung der Träger untereinander (vgl. ebd. sowie Peters 2008b),
  • Sinkende Mitarbeiterbindung und -motivation; erfahrene MitarbeiterInnen werden aus Kostengründen kaum noch eingestellt bzw. können nicht gehalten werden,
  • Verlust an Stetigkeit und Verlässlichkeit staatlicher Leistungen durch vermehrte Projektförmigkeit von Aktivitäten (vgl. u. a. Vogel 2007: 55 ff.; Peters 2010).

Vogel schreibt den Prozessen der Vermarktlichung der öffentlichen Wohlfahrtsproduktion in einer den gesamten öffentlichen Sektor einbeziehenden Perspektive gar klassenbildende Effekte und einen, von der Öffentlichkeit nahezu nicht zur Kenntnis genommenen Beitrag zur Prekarisierung bzw. sozialen Verwundbarkeit der „alten“ Mittelschichten und der Staatsbediensteten zu (vgl. Vogel 2007: 63 ff., 81 ff.). „Die Beschäftigungssituation und die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst lassen sich insgesamt auf folgende Stichworte bringen: jahrelanger kontinuierlicher Personalabbau, wachsende Arbeitsverdichtung und Zeitnot, verdeckte Lohnsenkungen durch Streichung bzw. Reduzierung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie die Durchsetzung flexibler ungeschützterer Arbeitsbedingungen.“ (Vogel 2007: 65) Neue soziale und rechtliche Spaltungslinien, die mitten durch die Dienstklassen des Wohlfahrtsstaates verlaufen, werden als sozialstrukturelle Konsequenzen sichtbar (vgl. ebd.).

Märkte sowie Wettbewerb/Konkurrenz gelten nicht in jedem Fall für jeden als beste oder effizienteste Formen der Handlungskoordination, aber sie gelten als innovativste. Aus dieser Perspektive kommt dem Wettbewerb um Innovationen eine mindestens vergleichsweise, wenn nicht höhere Bedeutung zu als dem Preiswettbewerb. Innovationswettbewerb entspricht dabei einer Konfliktvermeidung im Wettbewerb um Tauschmöglichkeiten und zeigt sich in „Produktdifferenzierung, Kreation von Marktnischen, Begründung technischer Standards sowie Organisationstechniken der Integration und Diversifikation“ (Wiesenthal 2006: 101, zit. nach Düring, 2011: 40). Märkte bringen also aus ihrer inneren Logik heraus immer Neues hervor. In der Kinder- und Jugendhilfe zeigt sich diese Logik aktuell in einer zunehmenden Spezialisierung von Hilfearrangements, sei es in als besonders „intensiv“ ausgewiesenen Formen der Erziehung oder als auf besondere Zielgruppen bezogene Angebote, sei es als Modularisierung von Hilfen oder als Begründung neuer diagnostischer Standards/Verfahren oder der Erfindung immer neuer Trainings.

Aus Sicht der einzelnen Träger, die auf einem politisch inszenierten Markt agieren, macht diese Spezialisierung Sinn, insofern sie damit sowohl einem wiederum politisch induzierten Bedarf – wie am deutlichsten im Fall freiheitsentziehender Maßnahmen/geschlossener Unterbringung zu sehen – entsprechen, oder ihn durch ihr Angebot auch selbst herstellen. Dies ist durchaus möglich, da Träger Jugendämter „beobachten“ und aus Erfahrung wissen, dass alles, was angeboten wird, i.d. R. auch genutzt/nachgefragt wird. Dies gilt zumal, wenn die Fallzahlen steigen und/oder Mitarbeiter_innen der Jugendämter es mit als „schwierig“ eingeschätzten Fällen zu tun haben. Hier sind sie schnell geneigt, neue Angebote auszuprobieren. Über z. T. hochgradig selektive und z. T. ebenso fantasievoll konzeptionell begründete Spezialangebote sichern sich Träger so Alleinstellungsmerkmale und kurzfristige Konkurrenzvorteile gegenüber anderen Anbietern. Wenn dies auch noch durch bessere Arbeitsbedingungen, bessere Erzieher-Kind-Relationen oder bessere Bezahlung/höhere Entgelte „belohnt“ wird, gibt es starke Anreize für eine weitergehende Spezialisierung (vgl. die Beiträge in Forum Erziehungshilfen Heft 3/2013).

Was aus der Sicht des einzelnen Trägers so als eine rationale Anpassung an Marktmechanismen erscheint, ist als weitere Ausdifferenzierung des Gesamtsystems Jugendhilfe aber u. U. hochgradig kontraproduktiv. Denn die Vorteile einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Angebotsstruktur bei vermeintlich klarem Problembezug und der Suggestion einer „starken Kopplung“ von „Problem“ und „Lösungsangebot“ sind zugleich auch Nachteile: Je spezialisierter eine Angebotsstruktur ist, desto größer ist auch ihre Selektivität, mit der unerwünschten Folge, dass vermehrt Kinder und Jugendliche, die sich nicht exakt in das (jeweilige institutionell) gewünschte oder vorhandene Profil einer durch „social censures“ bestimmten Praxis einpassen, „durch die Maschen“ fallen. Je spezialisierter ein System ist, desto mehr Unzuständigkeiten produziert es auch. Die Folge dieser „Angebotsorientierung“ und eines für jede Problemgruppe spezialisierten Settings ist daher eine organisierte Unzuständigkeit. Alle diese in sich ausdifferenzierten Teilsysteme entwickeln ihre eigene Selektivität. Für jede Problemlage – so die Kritik – ist ein anderes Angebot zuständig. In dieser funktionalen Differenzierung werden grundlegende Maximen einer lebensweltorientierten Jugendhilfe überlagert durch die Logik einzelner, marktwirtschaftlich operierender Organisationssysteme – mit allen für Märkte bekannten Konsequenzen. Es wäre naiv, zu glauben, „Quasi-Märkte“ wären davon ausgenommen.

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* Gleiches kann auch unter dem Signum von „Religion“ erfolgen, wie das Aufkommen der neuen Fundamentalismen zeigt. Interessanterweise wird das in Europa mehrheitlich kritisch gesehen, während es im Falle der „Wirtschaft“ toleriert bzw. aktiv befördert wird.

 

Literatur

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