Governance

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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In der Kinder- und Jugendhilfe spricht man nicht so oft vom inzwischen ansonsten als „catch-all“-Wort (Lange/Schimank 2004: 18) genutzten Begriff von (local) governance, obwohl die Praxis längst durch Governance-Prinzipien als Teil eines hegemonialen neo-liberalen Gesamtdiskurses strukturiert ist. Während Gouvernement für den hierarchischen, zentralistischen und dirigistischen Charakter traditioneller staatlicher Steuerungsformen steht, bezieht sich Governance auf neue Steuerungsformen, die traditionelle Grenzziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, Ökonomie und Politik durch neue Mechanismen der Interdependenzbewältigung zwischen Akteuren aufheben sollen. „Governance bezeichnet also zunächst eine Transformation von Staatlichkeit, wie sie die Definition der UNO Commission on Global Governance (CGG 1995: 4) zum Ausdruck bringt: ‚Ordnungspolitik bzw. Governance (…) umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse angesehen werden‘. Dass die Herausgeberin der deutschsprachigen Version des Berichts Governance als Ordnungspolitik übersetzt, zeigt die Richtung an: Es geht darum, auf verschiedenen Handlungsebenen und in unterschiedlichen Praxisfeldern geregelte Verfahren und Aushandlungsmechanismen bereitzustellen, um den Bedeutungsverlust staatlicher Administrationen und souveräner Entscheidungsprozesse für das Management ökonomischer und sozialer Prozesse auszugleichen.“ (Brand 2004: 112) „Governance erweist sich so als Teil einer historisch-politischen Konjunktur, in der die Kritik am Neoliberalismus zum Vehikel seiner Restrukturierung geworden ist“ (Brand 2004: 115), „denn selbst entschiedene Liberale gehen inzwischen davon aus, dass der Marktfundamentalismus um einen efficient state“ u. a. auf lokaler Ebene, bei selektiver Stärkung regionaler und lokaler Strukturen, ergänzt werden muss. „Insofern revitalisiert der Governance-Diskurs zumindest teilweise den in der Nachkriegszeit dominierenden Planungs- und Optimierungsglauben.“ (Brand a. a. O.: 114)

Dabei steht der Begriff für eine doppelte Perspektive der Veränderung – er markiert einerseits veränderte „Realitäten“, aber zugleich steht er für eine veränderte Wahrnehmung und Interpretationen dieser Realitäten (vgl. Benz 2009: 11 ff.). Brunnengräber (et al. 2004: 13) differenzieren dementsprechend zwischen

  • Governance als deskriptiven (oder präskriptiven) Begriff, der auf veränderte gesellschaftliche Regelungsmechanismen und Strukturveränderungen verweist,
  • Governance als politisch-strategischem Konzept, das bestimmte Handlungsnotwendigkeiten begründet und zwischen
  • Governance als analytischem Instrumentarium zur systematischen Erfassung gesellschaftlicher Integrations- und Interaktionsformen.

Für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe verspricht die Governance-Perspektive in ihrer Mehrdeutigkeit insbesondere an den Stellen neue/weiterführende Einsichten, aber vor allem Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten, wo es um „neue“, „moderne“ Formen des netzwerkförmigen oder sozialräumlichen Steuerns und Organisierens unterschiedlichster „Leistungen“ unter Beteiligung verschiedenster Akteur_innen bzw. Systeme geht. Gemeint sind hier z. B. sog. „kommunale Verantwortungsgemeinschaften“ jeglicher Couleur (vgl. ausführlich Schöne 2013), die das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, lokale Bildungslandschaften (vgl. Täubig 2011), aber auch präventive Delinquenzabwehr (vgl. die sog. „Kriminalpräventiven Räte“), die Etablierung von Netzwerken früher Hilfen/früher Förderung sowie Netzwerke kommunaler Gesundheitslandschaften (vgl. Hensen/Hensen 2013) oder die (soziale) Restrukturierung benachteiligter Stadtteile zur gemeinsamen Aufgabe von privaten, öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen erklären. Sie orientieren – häufig im präskriptiven Duktus – auf eine „gemeinsame Verantwortung“ für das jeweils infrage stehende Politiksegment und darauf, dass die relevanten Akteur_innen der unterschiedlichen Systeme (Schule, Sozialsystem, Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitssystem) „Hand in Hand“ für die gute Sache arbeiten, dabei strukturelle Hemmnisse quasi en passant überwinden und auf lokaler (kommunaler) Ebene ein integriertes oder integrierendes Hilfesystem etablieren.

Nun ist die Beteiligung des dritten Sektors bzw. zivilgesellschaftlicher Akteur_ innen an der Wohlfahrtsproduktion kein neues Phänomen und in Form des Subsidiaritätsprinzips auch konstitutiver Bestandteil des deutschen Sozialstaats und auch die positive Konnotierung von Kooperation begleitet die Profession nicht erst seit gestern. Die Veränderungen wohlfahrtsstaatlicher Rationalitäten hin zu einem aktivierenden bzw. sozialinvestiven Sozialstaat zeitigen allerdings Konsequenzen für den Stellenwert, der solchen Strategien zugeschrieben wird und auch für deren konkrete Ausformung. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Neuordnung bzw. Verschiebung der Verantwortungsstufen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die sich mit dem Umbau des Sozialstaats vollzieht. Staatliche Verantwortung verschiebt sich von der Erfüllungsverantwortung zur Gewährleistungsverantwortung (vgl. Röber 2005) und (Good) Governance wird dabei zum Reformkonzept für Modernisierungsprozesse/-politiken: „Regieren und Verwalten im Sinne von Governance findet demgemäß überwiegend in horizontalen, netzwerkartigen Konstellationen von öffentlichen und privaten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteuren und Akteurinnen statt, die aber wiederum im Schatten der Hierarchie des Staates agieren (vgl. Benz 2004, Risse 2007).“ (Düring 2011: 54)

Bezogen auf die Kinder- und Jugendhilfe konstatiert der 14. KJB folgerichtig auch eine „gestiegene öffentliche Verantwortung“, die sich, um ein prominentes Beispiel zu bemühen, z. B. im politisch initiierten flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung (U3-Ausbau) oder auch den Entwicklungen zur Ganztagsschule zeigt. Im Ergebnis führen diese Entwicklungen dazu, dass „[z]ahlreiche Prozesse des Aufwachsens, die früher ausschließlich im privaten, ungeregelten Nahraum der Familien abliefen, … nun verstärkt außerhalb des familialen Nahraums statt(finden)“ (37). Zugleich wird in dem Zusammenhang betont, dass die „Stärkung der öffentlichen Verantwortung … nicht einher [geht] mit einem, wie auch immer gearteten, Bedeutungsverlust der Familie. (…) Wenn staatliche Institutionen oder Akteure der Zivilgesellschaft Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen übernehmen, wird die familiale Verantwortungsübernahme ergänzt, erweitert und manchmal sogar erst ermöglicht. Damit sind die Familien nicht aus der Verantwortung entlassen; auch versucht der Staat nicht, in Familien „hineinzuregieren“ – es ergeben sich aber neue Verschränkungen und Mischungsverhältnisse von öffentlicher und privater Verantwortung“ (37).

Die Entsprechung auf organisatorisch-institutioneller Ebene findet diese „neue“ Verantwortung in der pluralistischen Wohlfahrtsproduktion, die als Zusammenspiel von „achtsamen“ Staat, Markt, Dritter Sektor/Zivilgesellschaft und Gemeinschaften dargestellt wird. Hier zeigt sich eine „veränderte Sichtweise des Regierens, der Strukturen und Prozesse des „Politikmachens“ (policy making), der Politikformulierung und -umsetzung“ (Jann/Wegrich 2004: 194): Gesellschaftliche Akteur_innen werden (vordergründig) in die Problembewältigungen einbezogen („aktiviert“), die dadurch nicht nur effizienter und dienstleistungsorientierter zu werden scheinen, sondern auch noch das Potenzial haben, die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken und bürgerschaftliches Engagement zu fördern (vgl. Jann/Wegrich 2004). Das Wort einbezogen zeigt hier allerdings deutlich die Richtung an – der (aktivierende) Staat zieht sich nicht zurück, sondern bleibt mindestens über die Definition der (Steuerungs-)Aufgaben und Anlässe sowie vermittels der Ergebniskontrolle und ggf. Vorgabe von „Qualität“ zentrale Steuerungsinstanz. Mandy Schöne stellt mit Blick auf die „Soziale Arbeit in der ‚kommunalen Verantwortungsgemeinschaft‘ für Bildung“ heraus, dass diese vor allem eine Semantik erweiterter Handlungsspielräume für kommunale Akteur_innen akzentuieren, aber gleichzeitig die substanziellen Vorgaben für die Verantwortungsverwirklichung von staatlicher Seite erfolgen. Diese „eigentümliche Verbindung zwischen Ermächtigung und Disziplinierung“ führe dazu, „dass die in die kommunale Gemeinschaft eingebundenen Verantwortungsakteure immer weniger als Mitgestalter einbezogen werden als zuvor. Denn wie und in welcher Form die AkteurInnen aus dem Bildungs-, Sozial-, Jugendhilfe- und Gesundheitsbereich ihre Verantwortung zu realisieren haben, unterliegt stärker als zuvor staatlicher Lenkung“ (2013: 216). Des Weiteren zeichnet sie nach, dass kommunale Verantwortungsgemeinschaften nicht nur auf die „Verzahnung von Zuständigkeiten“ setzen, sondern auch die „Überwindung professioneller Abgrenzungen“ implizieren. „Hier stellt sich die Frage, was mit den kommunalen AkteurInnen passiert, die sich etwa aufgrund eines anderen traditionell-etablierten und fachlich-institutionellen Verständnisses, dazu entscheiden, sich nicht der Gemeinschaft der Gemeinsam- Verantwortung-Tragenden anzuschließen?“ (ebd.: 2017) Renate Mayntz spricht des Weiteren den „Problemlösungsbias“ als generelle Schwäche politischer Steuerungstheorie an, der auch durch die Governance-Perspektive nicht aufgehoben wird: „Hier wie dort steht die – gelungene oder misslingende – Regelung im Zentrum des Interesses, nicht dagegen das so eminent politische Motiv des Machterwerbs und Machterhalts um seiner selbst willen.“ (Mayntz 2004: 74)

In den meisten positiv konnotierenden Einlassungen zu „Governance“ werden vor allem normative Inhalte der Debatte um Good Governance transportiert. In der politischen und/oder verwaltungspolitischen Praxis steht (Good) Governance für Programme zur Verbesserung des Regierens – auch mittels Abbau staatlicher Leistungen und Steuerung zu Gunsten privater oder zivilgesellschaftlicher Tätigkeiten (vgl. Benz 2004: 18). Zugleich findet eine Ausweitung der „Sphäre des Politischen“ in die Gesellschaft „hinein“ statt, indem sich der „Bereich des Politischen“ – die „Herbeiführung und Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen“ – in die Gesellschaft ausgedehnt hat (Heinelt 2008 zit. nach Düring 2011: 54). Diese Entwicklung kann als funktionale, gleichsam entpolitisierte Politisierung der Gesellschaft verstanden werden. So gesehen, besteht die Krux dieser „neuen“ Formen gesellschaftlicher Problembearbeitung vor allem darin, dass Macht- und Herrschaftsaspekte völlig ausgeblendet werden. Dies gilt auch oftmals für die als egalitärer und leistungsfähiger behaupteten Formen kooperativer Steuerung (vgl. Düring 2011).Wie diese Studie zu kooperativen Steuerungsformen in der Kinder- und Jugendhilfe zeigt, sind kooperative Steuerungsformen „nicht vorschnell als quasi neutrale, lösungsorientierte und vor allem Erfolg sichernde Verfahren“ in den Blick zu nehmen, da sie zum einen praktisch dazu genutzt werden können, „Zustimmung zu potentiell konfliktträchtigen Lösungen vorab zu erzeugen, ohne direktive(re) Steuerungsinstrumente einzusetzen“ und andererseits auch dazu tendieren, ungleiche Ressourcenausstattung und Interessensgegensätze der beteiligten Akteur_innen zu ignorieren (Düring 2011: 174).

So sind also auch an die „modernen“ Formen staatlicher Steuerung, die sich in der politisch-programmatischen Rede von „(Good) Governance“ und kommunalen Verantwortungsgemeinschaften zeigen, die altbekannten Anfragen zu stellen: Wem nützen sie und welche Interessen werden bedient?

 

Literatur

  • Benz, A. (2004): Einleitung: Governance. Modebegriff oder nützliches sozial-wissenschaftliches Konzept? In: Benz, A. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden, S. 11–28.
  • Brand, U. (2004): Governance. In: Bröckling, U./Krasmann, S./Lemke, T. (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M., S. 111–117.
  • Brunnengräber, A./Dietz, K./Hirsch, B./Walk, H. (2004): Diskussionspapier 01/04 des Projektes „Global Governance und Klimawandel“. Berlin.
  • Düring, D. (2011): Kooperation als gelebte Praxis. Steuerungshandeln in Sozialraumteams der Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden.
  • Hensen, G./Hensen, P. (2013): Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen als kommunale Aufgabe. In: Luthe, E.-W. (Hg.): Kommunale Gesundheitslandschaften. Wiesbaden, S. 225–242.
  • Jann, W./Wegrich, K. (2004): Governance und Verwaltungspolitik. In: Benz, A. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden, S. 193–214.
  • Lange, S./Schimank, U. (2004): Governance und gesellschaftliche Integration. In: dies. (Hg.): Governance und gesellschaftliche Integration. Wiesbaden, S. 9–44.
  • Mayntz, R. (2004): Governance im modernen Staat. In: Benz, A. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Wiesbaden, S. 65–76.
  • Nullmeier, F. (2011): Governance Sozialer Dienste. In: Evers, A. et al. (Hg.): Handbuch Soziale Dienste. Wiesbaden, S. 284–298.
  • Röber, M. (2005): Aufgabenkritik im Gewährleistungsstaat. In: Blanke, B./von Bandemer, S./Nullmeier, F./Wewer, G. (Hg.): Handbuch zur Verwaltungsreform. 3., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden, S. 84–94.
  • Schöne, M. (2013): „Kommunale Verantwortungsgemeinschaften“ für Kinder. Zur Idee eines integrierten Bildungs-, Sozial-, Jugendhilfe- und Gesundheitssystems. In: Grubenmann, B./Schöne, M. (Hg.): Frühe Kindheit im Fokus. Entwicklungen und Herausforderungen (sozial-)pädagogischer Professionalisierung. Berlin, S. 211–228.
  • Täubig, V. (2011): Lokale Bildungslandschaften – Governance zwischen Schule und Jugendhilfe zum Abbau herkunftsbedingter Bildungsungleichheit? In: Dietrich, F./ Heinrich, M./Thieme, N. (Hg.): Neue Steuerung – alte Ungleichheiten? Steuerung und Entwicklung im Bildungssystem. Münster u. a., S. 219–228.

 

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