Partizipation
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Mit der lateinischen Herkunft des Wortes Partizipation aus den Bestandteilen Pars = Teil und Capere = nehmen, welche in dem Wort Particeps = an etwas teilnehmend auflaufen, werden die historischen Wurzeln zu der Politik um die Auseinandersetzung bezüglich der Demokratie in der griechischen Antike durch Aristoteles offensichtlich. In diesem Diskurs etabliert Aristoteles die Beteiligung als demokratische Lebensform, welche dadurch zu charakterisieren ist, „dass sich ihre Teilhaber qualitativ nicht voneinander unterscheiden und sie daher allen gleiche Rechte (isonomia) einräumen“ (Brumlik 2004: 232). Grenzen der Partizipation lassen sich exemplarisch aber auch hier bereits in den Personengruppen der Frauen und Sklaven aufzeigen, so dass Beteiligung als ein Momentum für eine exklusive Gruppe von Menschen vorbehalten ist. Diese Demokratietheorie entwickelt sich im Laufe der Geschichte zu mehreren auch kontrastierenden Theorien in Form von liberalen und republikanischen Ansätzen weiter. Gleichwohl wurde die Essenz der Volkssouveränität mit „gleichen Partizipationschancen und wechselseitiger Anerkennung aller Bürger“ (Brumlik 2004: 235) bisher als Charakteristikum einer Demokratie herausgestellt. Eine so verstandene politische Partizipation ist deshalb ein konstitutives Merkmal demokratischer Gesellschafts-, Staats- und Herrschaftsformen, durch welche Solidarität und Gleichheit gewährleistet sowie Pluralität anerkannt werden kann. In einer kritischen Betrachtung der ökonomischen Globalisierung besteht jedoch die Gefahr der Auflösung von Nationalstaaten in Suprastaaten und somit der Verlust von Mitbestimmungsmöglichkeiten, da hierfür internationale Verfahren, Gremien und Gesetzgebungen ihren alternativen Einsatz finden können. Diesen Tendenzen wird die Entwicklung einer internationalen Zivilgesellschaft zur Förderung einer transnationalen Demokratie mit den darin eingeschriebenen Partizipationsrechten hoffnungsvoll entgegengesetzt (vgl. Brumlik 2004: 237).
Aus den politischen Überlegungen zu der Etablierung einer internationalen Zivilgesellschaft resultiert die rechtliche Konzeptionierung der UN-Menschenrechtskonvention als nationalstaatlich übergreifender Regelkatalog. Entsprechend hierzu wurde die UN-Kinderrechtskonvention entwickelt, welche in Deutschland im Jahr 2010 vollständig ratifiziert wurde. Hier ist insbesondere der Artikel 12 zur Berücksichtigung des Kinderwillens herauszustellen:
„Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Diese Rechtsstellungen finden sich zudem auch in Deutschland nationalstaatlich verankert in § 1626 BGB , in § 5 SGB VIII zum Wunsch- und Wahlrecht, in § 36 SGB VIII zur Mitwirkung bei Hilfeplanung, im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetz neu etablierten § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII zur Betriebserlaubnis: zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden und in § 79a SGB VIII zur Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe. Anhand dieser rechtlichen Neujustierung, wie es sich auch in der Kindheitsrespektive Adressatenforschung vollzogen hat, wird der Paradigmenwechsel von einer Defizitorientierung hin zu einer Subjektorientierung mit Fähigkeiten seitens des Klientels offensichtlich.
Dieser rechtlich verbindliche Perspektivenwechsel auf der Makroebene wirkt sich ebenfalls auf das professionelle Selbstverständnis in den Hilfen zur Erziehung auf der Mikroebene aus, so dass die Professionellen in dieser Rolle die Eigenaktivitäten des Klientels zu fordern und zu fördern haben. Diese beiden Ebenen relationieren sich in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung der personenbezogenen sozialen Dienstleistungstheorie (vgl. Beitrag Flösser und Vollhase in diesem Band) in der Sozialen Arbeit. Über Beziehungen und Interaktionen in Form von Beteiligung des Klientels kommt es zu einem Austausch und Aushandeln zwischen dem Professionellen und dem Klientel nach dem Uno-actu-Prinzip, in welchem die Produktion und Konsumtion in einem Akt zusammenfallen. Damit wird der Klient als Nutzer der Dienstleistung zeitgleich zum Ort der Dienstleistung, weshalb der Nutzer zum Produzenten stilisiert wird und der Professionelle die Rolle des Ko-Produzenten nach der Nutzerorientierung von Schaarschuch (1999) einnimmt. Anhand einer so verstandenen responsiven Dienstleistungsorientierung ist das Partizipationsrecht mehr als evident, da die Mitarbeit der Klientel bei einer Erziehungshilfe bessere Ergebnisse zur Folge haben kann und außerdem lediglich Angebote geschaffen werden, welche auch von dem Klientel in Anspruch genommen werden, so dass die knappen Ressourcen sorgfältig eingesetzt werden können. Hinzu kommt, dass über die Befragung des Klientels bezüglich der Hilfe Aussagen hinsichtlich der Qualität getroffen werden können (vgl. Schnurr 2011: 1070 ff.). Gleichwohl ist kritisch anzumerken, dass die Eigenaktivitäten des Klientels nicht nur gefördert werden, sondern in dem Kontext des Umbaus des fürsorgenden Wohlfahrtsstaates in einen aktivierenden Wohlfahrtsstaat, welcher sich lediglich auf eine Gewährleistungsverantwortung zurückzieht, vielmehr fordert und damit ebenso die Eigenverantwortung für das individuelle Gelingen oder Scheitern der Bemühungen extrem erhöht. Dementsprechend ist die aktuelle Partizipationsdebatte als zweischneidig zu entlarven. Einerseits räumt es dem Klientel eine Beteiligung bei den zu leistenden Erziehungshilfen ein, aber andererseits schürt sie damit auch die Eigenverantwortung und damit die Individualisierung des Hilfebedarfs, so dass strukturelle, gesellschaftliche, soziale Probleme dem Individuum, aber nicht dem sozialen System zugeschrieben werden und sich der Staat damit zusehends aus seiner Verantwortung verabschiedet mit dem zynischen Vorteil der Kosteneinsparung. Demensprechend ist eine partizipative Haltung in der Interaktion mit dem Klientel zu etablieren, die durch die Momente von Emanzipation und Mündigkeit den Hilfeprozess reflexiv aufzubrechen vermögen.
Diese durch die Aufarbeitung der Heimerziehung der 1950er- und 1960er- Jahre und aktuellen Missbrauchsvorfälle evozierte partizipative Haltung ist jedoch seit jeher historischer Bestandteil der sozialpädagogischen Praxis. Stellvertretend sind hier Korczaks (1877–1942) Kinderparlamente, die Kollektiverziehung von Makarenko (1888–1939), die Kibbuzerziehung von Bernfeld (1892–1953) und Deweys (1859–1952) Versuchsschule zu benennen. Gemeinsame Grundlage dieser exemplarischen Klassiker war die Bereitstellung und Schaffung eines pädagogischen Ortshandelns nach Winkler (1997), um die für die soziale Teilhabe notwendigen partizipativen Kompetenzen und Verhaltensweisen auszuprobieren und aneignen zu können, um ein mündiger und emanzipierter Bürger der Gesellschaft zu werden. Dennoch unterliegt die Begründung der Partizipation einerseits dem pädagogischen Dilemma, dass die Kompetenzen zur Beteiligung nicht vorausgesetzt werden können, die sich jedoch auch nicht ohne Partizipationsmöglichkeiten ausbilden können und somit eine Fehlertoleranz für einen ergebnisoffenen Prozess beim Professionellen erfordern. Andererseits ist eine Machtasymmetrie zwischen dem Professionellen und Zögling gegeben, wodurch die Professionellen Räume für Partizipation öffnen oder eben auch schließen können. Zudem werden fast ausschließlich die von der Politik und der Gesellschaft hauptsächlich favorisierten adäquaten Partizipationsstrategien vermittelt, obwohl selbst diese zu hinterfragen wären (vgl. Schnurr 2011: 1073). Hier trifft wieder das Dilemma der Setzung des bereits mündigen Klientels mit Partizipationskompetenzen, was zu einer Überforderung des Klientels in der Situation führen kann und dadurch doch eher eine Fremdbestimmung durch die Professionellen aufgrund von Orientierungslosigkeit hervorrufen kann.
Hierzu scheint nicht nur eine advokatorische Ethik nach Brumlik (2004) und das Parteilichkeitsgebot für die Professionellen ausreichend, sondern es erfordert darüber hinaus ein institutionalisiertes Beschwerdemanagement, um die expertokratische und paternalistische Schein-Partizipation des Klientel – aus welchen Gründen auch immer – (vgl. Pluto 2007) zu Gunsten einer tatsächlichen Beteiligung am Hilfeprozess zu gewährleisten. Nur eine so angelegte Partizipation kann die Entwicklung hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern und somit zur Demokratisierung der Demokratie tatkräftig beitragen. Entsprechend hat es die Partizipation in der Praxis der Jugendhilfe noch immer schwer. So wie oben beschrieben, steckt das Problem im Anspruch an den partizipationsfähigen Partner, der weder auf der einen noch auf der anderen Seite vorhanden zu sein scheint. Kinder und Jugendliche verfolgen zwar Interessen, können diese jedoch nicht oder nur unzureichend in partizipative Abläufe einbringen. Sie können nicht abwarten, wollen hier und jetzt Klärungen, haben keine Übung darin, wie Diskurse und Entscheidungsfindungen insbesondere im Kontakt mit Erwachsenen oder professionellen Pädagogen ablaufen könnten, sind in Konkurrenz miteinander, stehen unter Druck usw. Auf der anderen Seite sind da die Pädagogen und Organisationen, die ebenso ungeübt sind, jeweilige Interessen als auszuhandelnde Orientierungen zu begreifen und als solche in einem gemeinsam zu gestaltenden Prozess einzubringen. Im Alltag, so ist zu vermerken, treffen also unterschiedliche Interessen aufeinander, die bisweilen noch nicht einmal benannt werden. Auf jeden Fall werden sie nicht als diskursfähige Absichten beschrieben und erkannt, sondern als Gegensätze, die es zu bekämpfen, zu beseitigen oder zu ignorieren gilt. Partizipation setzt aber gerade darauf, Interessen von Einzelnen und Gruppen kenntlich zu machen und die Auseinandersetzungen darüber als Entwicklungschance zu verstehen. Im Grunde geht es ja nicht darum, dass jemand Recht hat oder sich das eine Interesse gegen das andere durchsetzt, sondern darum, so etwas wie Verständnis, Moral, Ausgewogenheit und eben Entwicklung zu erzeugen und zu befördern. Genau das wird in der Praxis aber oft vergessen oder mit einfachsten Demokratiegeschehen (wir stimmen ab und die Mehrheit bestimmt) verwechselt. Weil das so ist, scheitern Bemühungen, Partizipation in den Organisationen der Jugendhilfe zu beginnen, in der Regel sehr früh. Dann meinen Pädagoginnen, dass die Kinder es eben nicht können und die Kinder sagen, dass es eh keinen Sinn hat, weil man sich gegen die Erwachsenen und Mehrheiten nicht durchsetzen kann.
Partizipation im Rahmen der Jugendhilfe als eine reine Methode zu begreifen und umzusetzen, scheint also zu kurz gegriffen, zumal, wenn sie nur halbherzig eingeführt wird. Vielmehr ist es sinnvoll, von einer Kultur der Partizipation zu sprechen. Nur dann, wenn sich Jugendhilfeorganisationen (egal ob Jugendamt oder Kinderheim) zu einer Kultur der Beteiligung bekennen (ganz so, wie oben historisch beschrieben) und eine solche entwickeln, wird sich Partizipation im Wirklichen auch gestalten lassen. Und erst dann werden sich auch die politischen wie auch persönlichkeitsfördernden Dimensionen entwickeln, die der Gewinn für die Beteiligten wären. Und nur unter solchen Umständen kann dann auch Beteiligung im Rahmen von Hilfeplanung und Hilfegestaltung als kreatives und förderliches Geschehen gestaltet werden. Dass das so ist, haben diverse Untersuchungen gezeigt (z. B. die sehr umfangreiche Untersuchung zur Beteiligung durch SOS, IGFH, Fachhochschule Landshut, IPP 2010 sowie die Studie der FU Berlin und BIBEK 2013 (Urban-Stahl/Jann 2014)). Kinder und Jugendliche, welche sich in ihren Einrichtungen und direkt an Hilfeplanung und Hilfeprozess beteiligt fühlen, erleben sich erfolgreich und haben grundsätzlich ein positiveres Lebensgefühl.
Die gesicherten Erkenntnisse aber finden nach wie vor nur unzureichend Anklang und führen demnach auch nicht zu flächendeckenden Veränderungen in der Praxis der HzE. Das mag auch daran liegen, dass zwischen angestrebter hoher Fachlichkeit in Einrichtungen und umfassender Mitbestimmung ein Widerspruch vermutet wird. Die Fachleute wollen sich in das, was sie tun, nicht hineinreden lassen. So, als würden die Passagiere in einem Flugzeug dem Piloten beim Steuern der Maschine nicht nur zuschauen, sondern auch mehrheitlich gewollt in dessen Handlungen eingreifen. Doch was in bestimmten Bereichen gesellschaftlichen Handelns angemessen und richtig sein mag, ist im Zusammenhang von menschlichem Wachsen und Werden, bei dem es eben immer auch um Freiheit und unberechenbare Dynamik geht, weder produktiv noch angesagt. Menschen wollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten und eigener Vorstellungen, Wünsche, Perspektiven und Ideale selbstbewusst handeln und entscheiden. Im besten Falle auch im Sinne demokratisch abgestimmter gemeinsamer Ziele und Vorgehensweisen.
Und das hat Folgen, denn Partizipation ist mit der Übernahme von Verantwortung eng verbunden. Fühlt sich jemand beteiligt, wird er oder sie auch bereit sein, Verantwortung für das, was geschehen soll, zu übernehmen. Und zwar Verantwortung für andere, für die Familie oder die Gemeinschaft, wie auch für sich selbst. Hier gemeint als Handlungsfähigkeit und Souveränität und nicht als neoliberale Verschiebung. Diese Gewissheit sollte Ansporn sein, in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit partizipatorisches Denken und Handeln als Kultur zu etablieren.
Literatur
- Benner, D./Oelkers, J. (Hg.) (2010): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel, S. 232–243.
- Freie Universität Berlin (2012): Beschweren erlaubt. Projektergebnis. Projektleitung: Ulrike Urbahn-Stahl. Berlin.
- Krumenacker, F.-J. (1998): Bruno Bettelheim. München.
- Korczak, J. (2001): Von Kindern und anderen Vorbildern. Gütersloh.
- Krause, H.-U./Peters, F. (Hg.) (2009): Grundwissen erzieherische Hilfen. 3. Auflage. Weinheim, S. 53–64.
- Makarenko, A. S. (1948): Der Weg ins Leben. Berlin.
- Oelkers, J. (Hg.) (1993): John Dewey – Demokratie und Erziehung. Weinheim.
- Pluto, L. (2007): Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München.
- Schnurr, S. (2011): Partizipation. In: Otto, H.-U./Thiersch, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. 4. Auflage. München.
- Urban-Stahl, U./Jann, N. (2014): Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der Kinder und Jugendhilfe. München.
- Winkler, M. (1997): Die Matrix des Lebens. In: Krumenacker, F.-J.: Liebe und Haß in der Pädagogik. Freiburg, S. 170–212.
- Wolff, M./Hartig, S. (2013): Gelingende Beteiligung in der Heimerziehung. Ein Werkbuch für Jugendliche und ihre BetreuerInnen. Weinheim/Basel.