Spezialisierung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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In jüngster Zeit zeichnet sich eine verstärkte Tendenz zur Spezialisierung in den Erziehungshilfen ab. Mit Spezialisierung meine ich dabei nicht die Ausdifferenzierung von Hilfeformen, die die 80er-Jahre kennzeichneten – z. B. mit der Gründung von Kleinstheimen und der Etablierung ambulanter Erziehungshilfen, die u. a. motiviert waren durch das Interesse, Beziehungsabbrüche und Stigmatisierung für die Kinder und Jugendlichen zu vermeiden, insbesondere bei den integrierten Erziehungshilfen. Spezialisierung im hier gemeinten Sinn ist zum einen zu beobachten in Form der Schaffung neuer Einrichtungen und Gruppen für genau beschriebene Zielgruppen, zum anderen in der Spezialisierung von MitarbeiterInnen auf besondere Methoden wie etwa Traumapädagogik, Familientherapie u. Ä. Diese Entwicklung geht einher mit zahlreichen Veröffentlichungen und Fachtagungen, in denen eine differenzierte Diagnostik von Kindern und Jugendlichen in der Erziehungshilfe diskutiert oder propagiert wird (vgl. z. B. Themenheft „Diagnostik in der Jugendhilfe“ der Zeitschrift Jugendhilfe 1/2013 oder Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe 2012).

Eine solche Tendenz ist nicht ganz neu (vgl. Behnisch 2013, Behnisch/Winkler 2009), im Gegenteil: Die Geschichte der Jugendhilfe lässt sich als eine Geschichte immer weitergehender Differenzierung beschreiben. Waren bis zum 17. Jahrhundert oft noch ganze Familien in Armen- oder Zuchthäusern untergebracht, wurden die Bedarfe von Kindern und Erwachsenen in der Folgezeit immer deutlicher unterschieden, weil man erkannte, dass Kinder leichter zu beeinflussen sind als Erwachsene, insbesondere, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden.

Eine weitere Differenzierung ergab sich aus der Unterscheidung zwischen unverschuldeter und selbstverschuldeter Not. Waisenkinder galten – insbesondere nach Kriegen – als Opfer von Verhältnissen, die sie selbst nicht beeinflussen konnten, während streunende oder sich abweichend verhaltende Kinder und Jugendliche mit Charakterfehlern behaftet wahrgenommen wurden.

 

Erwartete Vorteile der Spezialisierung

Spezialisierung ist also eine schon recht alte Strategie in der Entwicklung der Heimerziehung, die sich im 20. Jahrhundert dann weiter verfeinerte, etwa durch die Differenzierung nach Geschlecht, Alter, Schultyp, Delinquenz. Als Argumente für diese Art der Organisation der Hilfe für Kinder und Jugendliche wurden u. a. herangezogen:

  • Differenzierung könne vor „Ansteckung“ schützen. Die getrennte Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit ihren jeweils homogenen Auffälligkeiten verhindere, dass sich die Heranwachsenden an problematischen Modellen orientieren. Und zugleich diene die Spezialisierung auch dem Schutz anderer Kinder und Jugendlicher, etwa vor aggressivem Verhalten und sexuellen Übergriffen anderer Heranwachsender.
  • Spezialisierung könne die zielgerichtete Bearbeitung spezifischer Probleme sicherstellen. Einrichtungen würden in die Lage versetzt, speziell qualifiziertes Fachpersonal zu beschäftigen, um Kinder und Jugendliche effizient zu behandeln.
  • Das Leben in der Einrichtung, die Bedingungen und Regeln dort könnten bei einer spezialisierten Unterbringung den besonderen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der jeweiligen Zielgruppe angepasst werden, was auch zu besseren Erfolgsaussichten beitrage.

Während bis zu den 70er-Jahren Spezialisierung als Differenzierung der Einrichtungen oder Gruppen nach Schwierigkeit, Alter, Geschlecht, Auffälligkeit der Adressat_innen und besuchtem Schultyp als Selbstverständlichkeit galt, geriet sie mit Reform der Heimerziehung in den 70er- bis 80er-Jahren – in der ehemaligen DDR bis in die 90er-Jahre – in die Kritik.

 

Nebenwirkungen von Spezialisierung

Die Kommission Heimerziehung sprach sich in ihrem Zwischenbericht (1977) eindeutig gegen Spezialisierung aus und schlug für die Differenzierung der Heimerziehung lediglich zwei Kriterien vor: zum einen die Nähe der Gruppe zum bisherigen Lebensmittelpunkt, zum anderen die voraussichtliche Dauer der Unterbringung. Kinder und Jugendliche, für die voraussichtlich ein langfristiger Lebensort gefunden werden muss, sollten demnach nicht gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen untergebracht werden, für die ein befristeter Aufenthalt angedacht ist, damit der Lebensort Wohngruppe nicht durch permanente Fluktuation der Kinder beeinträchtigt würde. Milieunähe der Unterbringung sollte der Regelfall sein, nur bei spezifischen Ausnahmen – etwa bei der Befürchtung gewalttätiger Übergriffe der Eltern auf die Kinder oder auf ausdrücklichen Wunsch der Kinder und Jugendlichen – sollte eine Unterbringung weitab des bisherigen Lebensortes durchgeführt werden. Grund für diese Ablehnung spezialisierter Einrichtungen war die Einsicht in die unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Spezialisierung, die den eigentlichen Zielen von Heimerziehung entgegenständen:

Spezialisierte Einrichtungen sind aus strukturellen Gründen kaum regionalisiert anzubieten. Dies bedeutet, dass die AdressatInnen meist in weiterer Umgebung von ihrem Herkunftsort untergebracht werden müssen und damit Bezüge und alte Anbindungen verloren gehen oder zumindest mittelfristig nur sehr begrenzt gepflegt werden können. Dies erscheint als deutlicher Nachteil für die Zielsetzung, dass die AdressatInnen nach erfolgreicher „Behandlung“ wieder in ihr altes Lebensfeld kommen sollten.

Spezialisierte Einrichtungen produzieren strukturell mehrfachen Wechsel des Lebensortes. Kinder und Jugendliche müssen u. U. mehrfach das Heim oder die Gruppe wechseln, um an den Ort zu kommen, der für ihre Diagnose passend erscheint. In der Regel wird der Bedarf für eine spezialisierte Unterbringung erst dann aktuell, wenn die Unterbringung in einer Regelgruppe oder nicht spezialisierten Gruppe ohne Erfolg geblieben ist. Spezialisierte Einrichtungen bieten für andere Einrichtungen die Legitimation, die Hilfe im bisherigen Setting abzubrechen und die Verantwortung hierfür der Besonderheit der Adressat_innen zuzuschreiben. Die so entstehenden Karrieremuster erschweren es den Adressat_innen eigene stabile Netzwerke außerhalb der Einrichtungen aufzubauen und zu pflegen. Außerdem tragen sie dazu bei, dass die jungen Menschen sich an der Diskontinuität von sozialen Beziehungen orientieren und sich so problematische Bindung und Beziehungsmuster eher verfestigen, als dass sie zum Positiven hin verändert werden könnten.

Anstatt Kindern und Jugendlichen ein spezifisches Angebot zu geben, werden sie in einem spezialisierten System eher nach ihrem Schwierigkeitsgrad sortiert. Das heißt, dass Heranwachsende, die in der Einrichtung schwer ausgehalten werden und als besonders schwierig und anstrengend gelten, aufgegeben und entlassen werden, mit der Begründung, die Einrichtung könne ihren spezifischen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Folge ist ein hierarchisches System von Einrichtungen, in dem die Heranwachsenden danach unterschieden werden, welche Einrichtung noch bereit und in der Lage ist, sie aufzunehmen und welches Entgelt das jeweilige Jugendamt bereit ist, für ihre Unterbringung zu investieren.

Die häufig mit Spezialisierung der Einrichtungen verbundene Spezialisierung innerhalb der Einrichtungen führt zu einem arbeitsteiligen System, in dem Mitarbeiterinnen nur für spezifische Aufgaben zuständig sind und diese möglichst professionell erfüllen. Ziel der jeweiligen Profession ist tendenziell eher die bestmögliche Erfüllung der eigenen Aufgabe als die Erreichung der grundlegenden Ziele für die Heranwachsenden wie etwa deren Selbstständigkeit. So kommt es in Einrichtungen zu einer Hierarchiesierung der Professionen, in der untergeordnete Professionen für das Alltägliche, andere Professionen für das Besondere und damit Wichtigere zuständig sind (vgl. Wolf 1985). Hierarchisierung der Professionen und Konzentration auf Teilziele der einzelnen Spezialisten anstelle der Orientierung an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen lassen sich sowohl bei den Versorgungsdiensten in den Einrichtungen wie auch bei den therapeutischen Diensten beobachten. Mit der Differenzierung und Hierarchisierung der Professionen geht eine Entwertung der Alltagsnähe einher, die als das Banale, fachlich am wenigsten Wertvolle betrachtet wird. Spezialisierung von MitarbeiterInnen führt einerseits zum Statusgewinn dieser MitarbeiterInnen, gleichzeitig aber auch zur Stigmatisierung der Heranwachsenden, die dadurch in spezifischer Weise als behandlungsbedürftig gelten. In den Einrichtungen hat es auch den Effekt, dass die jeweiligen Spezialisten ausgelastet werden müssen, d. h., dass z. B. die jeweils richtige Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit psychologischem Betreuungsbedarf vorhanden sein muss und die Nachfrage nach diesen Diensten insgesamt stabil bleiben muss, damit die Beschäftigung von Spezialisten nicht infrage gestellt wird. Um dies zu steuern, orientiert sich die Definition des Bedarfs zwangsläufig nicht nur an der Nachfrage der Heranwachsenden, sondern auch am Angebot.

Durch Spezialisierung werden AdressatInnen stigmatisiert. Die Merkmale, die eine Unterbringung in der spezialisierten Einrichtung begründen, werden zu zentralen Merkmalen der Person, werden in den Mittelpunkt der Beobachtung gestellt und somit aufgewertet. Die Stigmatisierung wird verstärkt, wenn die Einrichtung auch noch nach diesen Merkmalen genannt wird, z. B. als Einrichtung für sexuell übergriffige Jugendliche oder für junge Menschen mit Borderline-Störungen.

Die Logik der Spezialisierung bedeutet auch, dass Kinder und Jugendliche, bei denen das zur spezifischen Unterbringung führende Symptom behoben wird, aus dieser Einrichtung entlassen werden müssten. Dies gilt – schon aus Kostengründen – auch, wenn eine Rückkehr an ihren alten Lebensort nicht realisierbar erscheint. Besserung führt in dieser Logik also zum erneuten Verlust von sozialen Bezügen. Das darin deutlich werdende, eher klinische Verständnis von Hilfe, bei dem die Bedeutung von pädagogischen Beziehungen nur wenig oder gar nicht strukturell gewürdigt wird, widerspricht dem traditionellen und aktuellen sozialpädagogischen Denken.

Diese Überlegungen hatten in der Reformdiskussion der Heimerziehung einen Prozess in Gang gesetzt, Einrichtungen und Wohngruppen zu entspezialisieren. Dies bedeutete nicht, Kindern und Jugendlichen spezielle Angebote vorzuenthalten, sondern die Wahrnehmung solcher Angebote im Sinne von Normalisierung außerhalb der Einrichtung entsprechend des jeweils existierenden Bedarfes zu ermöglichen. In diesem Prozess etablierten sich Ansätze sozialpädagogischer Diagnostik (vgl. Mollenhauer/Uhlendorff 1992), die nicht Kinder, Jugendliche und Familien klassifizieren, sondern Hinweise für den pädagogischen Umgang mit Heranwachsenden und Familien geben wollen.

Wie anfangs beschrieben, geht – ausgelöst u. a. durch die Einfügung des § 8a ins SGB VIII, mit dem psychiatrische Diagnostik sich als fester Bestandteil der Jugendhilfe verstärkt etablieren konnte – die Entwicklung in den Hilfen zur Erziehung wieder stärker in die Richtung der Schaffung von – wie Klaus Wolf es nennt – pädagogischen Krankenhäusern. Aufgrund psychologischer oder psychiatrischer Diagnosen werden Kinder und Jugendliche spezifisch für bestimmte Störungsbilder vorgesehenen Einrichtungen der Jugendhilfe zugeordnet. Diese Tendenz kommt vielen AkteurInnen der Kinder- und Jugendhilfe entgegen, muss aber für die unmittelbar davon Betroffenen als durchaus kritisch angesehen werden:

  • Erleichternd ist eine psychiatrische Diagnose oft für die Eltern, für die es leichter zu ertragen ist, wenn ihr Kind aufgrund einer diagnostizierten Störung, Krankheit oder Behinderung nicht in der Familie leben kann, als die bestehenden Auffälligkeiten mit schwierigen Lebensverhältnissen für das Kind oder mit Erziehungsschwierigkeiten in Verbindung zu bringen. Der Nutzen solcher Diagnosen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ist hingegen oft zweifelhaft.
  • Das Jugendamt kann den festgestellten Bedarf besser legitimieren, wenn dieser durch die Diagnose eines – fraglos – anerkannten Experten, z. B. einer Psychologin oder einer Psychiaterin, festgestellt wurde. Außerdem geben solche Diagnosen u. U. die Chance, andere Finanzierungsquellen zu erschließen. So wird in manchen Kommunen eine Maßnahme nach § 35a über den Sozialhilfeetat finanziert und so der Jugendhilfehaushalt entlastet.
  • Auch für die Adressaten selbst kann es eine Erleichterung darstellen, wenn sie als krank betrachtet werden, ihre Auffälligkeiten als Ausdruck von – heilbarer – unverschuldeter Andersartigkeit bewertet werden und nicht mit Stigmatisierungen wie Bosheit, Charakterschwäche o, Ä. belegt werden.
  • Spezialisierten Einrichtungen bietet sich durch das Angebot von besonderen Gruppen die Möglichkeit, höhere Entgelte durchzusetzen und durch die Spezialisierung auch überregionale Nachfrage zu erzeugen.
  • Nicht spezialisierten Einrichtungen bietet das spezialisierte System die Chance, die Verlegung von Kindern und Jugendlichen, die als schwierig und störend für die Gruppe und die Einrichtung gelten, ohne eigenen Gesichtsverlust zu verlegen und abzuschieben.

Insgesamt kann sich damit im System eine Logik etablieren, die es erleichtert, nicht sich selbst infrage stellen zu müssen. Die Logik und Struktur eines spezialisierten Systems wird zur sachlogischen Antwort auf die sich ständig verschärfenden Störungsbilder der Kinder und Jugendlichen verklärt und damit lassen sich auch rigorosere Maßnahmen wie Intensivpädagogische Programme und Geschlossene Unterbringung legitimieren. Die schwierigen Lebensverhältnisse der Kinder, Jugendlichen und Familien sowie Maßnahmen zu deren Verbesserung werden nur noch als Randbedingungen thematisiert, die zunehmende soziale Ungleichheit in der Gesellschaft gerät aus dem Blickfeld.

 

Literatur

  • Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik (2012): „In guten Händen?“ Clearing und Diagnostik in den Hilfen zur Erziehung. Materialien zur Fachtagung am 11. und 12. Oktober 2012. Berlin.
  • Behnisch, M. (2013): Spezialisierung in den Erziehungshilfen. Historische Seitenblicke auf eine Debatte. In: Forum Erziehungshilfen, Heft 3, S. 132–137.
  • Behnisch, M./Winkler, M. (2009): Zwischen Faszination und Ablehnung. Einflüsse, Diskurse, Perspektiven im Verhältnis von Sozialer Arbeit und Naturwissenschaften. In: Behnisch, M./Winkler, M. (Hg): Soziale Arbeit und Naturwissenschaft. München, S. 10–41.
  • IGfH (1977): Zwischenbericht Kommission Heimerziehung. Frankfurt a. M.
  • Jugendhilfe (2013): Heft 2. Themenschwerpunkt: Diagnostik in der Jugendhilfe. Neuwied.
  • Mollenhauer, K./Uhlendorff, U. (1992): Sozialpädagogische Diagnosen I. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen. Weinheim/München.
  • Wolf, K. (1985): Entwicklungen in der Heimerziehung. Münster.