Risiko, Risikofaktoren und Risikoverhalten
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Risiko und Sicherheit sind in den letzten Jahren zu zentralen Deutungsmustern und Orientierungswerten aller Arten von gesellschaftlichen Problemen und abweichendem Verhalten geworden und scheinen mittlerweile ganz selbstverständlich nicht nur den Alltag von Institutionen der Problembearbeitung, sondern auch die Lebenswelt der Menschen in der modernen Gesellschaft zu bestimmen.
Einleitung: der Risiko-Begriff
Risiko ist zu einem zentralen Begriff geworden, mit dem ganz unterschiedliche Verhaltensweisen und Praktiken, Lebens- und Umweltbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen – wir leben in der „Risikogesellschaft“ – genauso beschrieben werden wie auch individuelle Orientierungen und Herrschaftstechnologien. Der Begriff findet sich in wissenschaftlichen Studien der Technik- und Umweltsoziologie genauso wie auch in der Kriminologie, der Sozialpolitik- oder der Drogenforschung; er ist zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Alltagskommunikation geworden und wird auch in den Medien in verschiedenen Konnotationen verwendet.
Man kann Risiken eingehen („etwas riskieren“), man kann Risiken ausgesetzt sein, sich riskant verhalten oder zu einer Risikogruppe gehören, sich gegen Risiken versichern, sie meiden oder Vorbereitungen für den Schadensfall treffen. Spätestens seit den 1970er-Jahren – ausgehend von der Gesundheitsforschung und Epidemiologie – werden alle Arten von Sorgen, Störungen, Unfällen, Hilfebedürftigkeiten, Lebenskatastrophen und Krankheiten als Ausdruck der Betroffenheit von Risikofaktoren oder Folge von „Risikoverhaltensweisen“ gedeutet. Veränderungen der Essgewohnheiten, des Sexualverhaltens und des Lebensstils, aber auch die gezielte Gestaltung riskanter Umwelten und die Steuerung von Verfahrensabläufen und Technologien unter Risiko- und Sicherheitsaspekten markieren Selbstverständlichkeiten der Orientierung, die nahezu keinen Lebensbereich mehr ausschließen. „Over the last half century, almost every aspect of our lives has been affected by this ascendant risk model of government. The design of cars, planes, roads, buildings and household equipment; the shaping of our bodies both inside and out; the production and consumption of food and clothing; patterns of saving and investment; education and training – all these and more are now ,governed by risk‘ (O’Malley 2010: 2). Nicht zuletzt der publizistische Erfolg der Arbeit von Ulrich Beck zur „Risikogesellschaft“ (1986) legt nahe, dass alle Lebensbereiche von einem Risikodenken infiziert sind.
Diese Selbstverständlichkeit basiert auf einer unmittelbaren Evidenz. Wenn man Unfälle, Schäden, Katastrophen und negative Entwicklungen verhindern oder zumindest dessen Folgen reduzieren kann, indem man z. B. einen Sicherheitsgurt anlegt, Brandschutzanlagen installiert, riskante Technologien verbietet, sich eine Versicherung zulegt oder bestimmte Verhaltensweisen meidet, wenn man das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, reduziert, indem man sein Fahrrad und seine Wohnung abschließt oder bestimmte videoüberwachte Parkplätze für Frauen einrichtet, so werden die meisten Menschen dies vermutlich als völlig unproblematisch und normal ansehen. Schließlich ist Vorbeugen allemal besser als heilen: „Dass es sinnvoller ist, künftige Übel durch geeignete Maßnahmen in der Gegenwart zu vermeiden, als sie erst dann zu bekämpfen, wenn sie manifest geworden sind, das erscheint so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Begründung bedarf.“ (Bröckling 2004: 210) In der Tat scheint es ebenso evident, Maßnahmen der „harm reduction“, der Gesundheitsvorsorge, der Kriminalprävention, Drogentests am Arbeitsplatz, „selective incapacitation“ und Sicherungsverwahrung, die Veröffentlichung der Adressen von (ehemaligen) Strafgefangenen, die verpflichtende Kooperation und Meldepflichten von Kinderärztinnen und -ärzten gegenüber dem Jugendamt sowie alle Arten der Überwachung als Ausdruck einer neuen Risikoorientierung oder einer Versicherungslogik in der Kontrolle abweichenden Verhaltens anzunehmen.
Risiko und Sicherheit sind also nicht nur Diskurse und Deutungsmuster von Gefahren, Störungen oder Schäden, sie sind verbunden mit spezifischen Technologien, Dispositiven und sozialen Praktiken der Risikobearbeitung und des Risikomanagements, insbesondere in den Organisationen der Bearbeitung und Kontrolle abweichenden Verhaltens, aber auch jedes Einzelnen im Alltag – und auch die Soziale Arbeit ist hiervon unmittelbar betroffen.
Dabei betreffen Risiken in diesen Diskursen ganz unterschiedliche Personengruppen: Es wird von Gesundheits- und Opferrisiken ebenso gesprochen wie von Risikofaktoren, Gewalttätern oder rückfällig zu werden, und von Risikoverhalten, das auf negative gesundheitliche, soziale oder finanzielle Folgen bezogen wird. Nicht zuletzt gehen aber auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Einrichtungen der Problembearbeitung Risiken ein, z. B. für negative Folgen haftbar gemacht zu werden, wenn sie intervenieren oder auch, wenn sie nicht intervenieren. Insofern man Risiken ausgesetzt ist, gewinnt man den Status eines (potenziellen) Opfers, dem Solidarität und Sympathie zugestanden wird. Insofern man Risikoverhaltensweisen zeigt, Risiken eingeht oder sie nicht aktiv vermeidet, hat man die Verantwortung für die Folgen zu tragen und wird zum (potenziellen) Täter. Gehört man zu einer Risikopopulation, d. h. zu einer Gruppe, die als Träger von Risikofaktoren ausgemacht wird, so wird man Objekt präventiver Maßnahmen, die je nach Zuschreibung als Opfer oder Täter als Hilfe und Unterstützung oder als Überwachung und Kontrolle konzipiert sind, auch unabhängig davon, ob ein Schaden, ein abweichendes Verhalten oder eine Beeinträchtigung bereits eingetreten und sichtbar geworden sind.
Die Logik des Risikos
Risikodiskurse stellen eine spezifisch moderne Form der Thematisierung von Unsicherheit und Ungewissheit über die Zukunft dar (Bonß 1995). Schicksalsschläge wie Unfälle, Krankheiten, finanzieller Verlust oder andere negative Ereignisse und Entwicklungen haben von jeher nach Sinn und einer Erklärung verlangt. Während aber in vormodernen Gesellschaften Fortuna mit ihrem Glücksrad oder göttliche Vorsehung zur Erklärung derartiger Zufälle des Lebens ausreichten, hat sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend die Verwendung des Risikobegriffs, zunächst im Bereich der Versicherungen und des Finanzwesens, durchgesetzt. Das Eintreten von Schäden, Katastrophen oder negativ bewerteten Ereignissen und Entwicklungen wird so als eine Manifestierung vorher bestandener Risiken verstanden und somit erklärbar, zumeist auf der Grundlage wissenschaftlicher Dignität sogar kalkulierbar und im Vorhinein kontrollierbar. Risiko ist also eine Form der Herstellung von Zukunftsgewissheit. Grundlage der Risikoidentifizierung und Risikokalkulation ist die Idee, dass letztlich alle Risiken entdeckt, messbar und dadurch kontrollierbar gemacht werden können. Das Entstehen von Risikodiskursen reflektiert somit die „Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft“ (Evers/Nowotny 1987).
Risikokalkulation
Risikoanalysen geben dem Eintreten von Zufall Sinn über den Rückgriff auf wissenschaftlich kalkulierte Wahrscheinlichkeiten. Im Unterschied zu Gefahren, die in Situationen oder Gegenständen lauern und Schäden verursachen, sind Risiken kalkulierte Bestimmungen des Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens. Grundlage hierfür ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren praktischer Nutzen sich zunächst bei der Berechnung von Versicherungsprämien herausgestellt hat. Das Prinzip der Versicherung beruht auf der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Schadensfällen. In Abhängigkeit von der Anzahl an Schadensfällen in der Vergangenheit und der durchschnittlichen Dauer bis zum Schadensfall sowie der in diesem Fall durchschnittlich anfallenden Auszahlung kann in verlässlicher Weise die Beitragshöhe so errechnet werden, dass es nicht zu Verlusten bei der Versicherung kommt.
In analoger Weise haben im 19. Jahrhundert die Moralstatistiker angefangen, Regelmäßigkeiten in der Gesellschaft zu vermessen. So konnte mit bemerkenswerter Genauigkeit vorhergesagt werden, wie viele Menschen geboren und sterben oder wie viele Menschen kriminelle Delikte verüben werden und in welchen Gebieten oder bei welchen Menschengruppen diese Erscheinungen häufiger oder weniger häufig auftreten werden (vgl. Ewald 1993: 171 ff.; Schmidt-Semisch 2002: 53 ff.). Wahrscheinlichkeiten lassen sich nur als Kollektivphänomen, für eine Gruppe oder Gesellschaft, berechnen, wenn einerseits bereits genügend (Schadens-)Fälle vorliegen (was die Risikokalkulation von großtechnischen Anlagen so schwierig macht), andererseits setzt die Kalkulation voraus, dass die Fälle in gleicher Weise kategorisiert und damit vergleichbar gemacht werden können (vgl. Hacking 2009). Eine Kalkulation und Identifikation von Risiken bezieht sich von daher immer auf eine Population, es können damit aber keine Aussagen darüber getroffen werden, welche Individuen aus dieser Population dann tatsächlich diese Eigenschaften oder Verhaltensweisen zeigen werden. Es handelt sich immer um eine Extrapolation von Ereignissen aus der Vergangenheit in die Zukunft, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
Die Identifizierung von Risikofaktoren funktioniert in analoger Weise. Aus dem Vergleich verschiedener Populationen (z. B. Jugendliche oder Familien mit und ohne Migrationshintergrund) hinsichtlich ihrer bisher gezeigten Verteilung des Auftretens von Problemen werden die Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit dieser Populationen zu Risiko- oder Schutzfaktoren für das Auftreten des Problems und damit die Gruppe mit der höheren Wahrscheinlichkeit bzw. mit der Kumulation unterschiedlicher Risikofaktoren zu einer Risikopopulation und die Mitglieder dieser Gruppe zu Trägern von Risikofaktoren. „Ein Risiko resultiert nicht aus dem Vorhandensein einer bestimmten Gefahr, die von einem Individuum oder auch einer konkreten Gruppe ausgeht. Es ergibt sich daraus, dass abstrakte Daten oder Faktoren, die das Auftreten unerwünschter Verhaltensweisen mehr oder weniger wahrscheinlich machen, zueinander in Beziehung gesetzt werden“ (Castel 1983: 59). Die Unterschiede sind dabei als Abweichungen vom Mittelwert kalkuliert, womit der Populationsmittelwert gleichzeitig implizit zu einem neuen normativen Verhaltensstandard wird: aus Normativität wird Normalisierung (Krasmann 2003: 86 ff.; Link 2013).
Unabhängig vom Problem, dass die Art, die Bedeutung und das Ausmaß von Schäden oder unerwünschten Verhaltensweisen unhinterfragt vorausgesetzt wird und als zu vermeidendes einheitliches Phänomen kategorisiert werden muss, ist grundsätzlich die Identifizierung von Risikofaktoren grenzenlos, insofern Populationsabweichungen vom Mittelwert immer als Risikofaktoren gedeutet werden können. Die Korrelationen lassen sich im Prinzip beliebig vermehren. So sind bspw. mittlerweile für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mindestens 300 Risikofaktoren identifiziert worden. In ähnlicher Weise sind mittlerweile mindestens 100 verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert, die mit dem Konsum illegaler Drogen in Verbindung gebracht werden (vgl. als Übersicht Groenemeyer 2012: 470 f.). Die Aussagekraft einzelner Faktoren ist dabei beschränkt, insbesondere auch im Hinblick auf das individuelle Risiko, weil sich die Risikofaktoren möglicherweise in Wechselwirkungen verstärken, individuelle Dispositionen Schutz gegen Erkrankungen bieten oder über andere gesundheitsrelevante Verhaltensweisen reduziert werden können, ohne dass allerdings im Rahmen des epidemiologischen Modells der Risikofaktoren präzise Aussagen darüber gemacht werden können, in welcher Weise und warum dies geschieht (Abholz et al. 1982; Groenemeyer 2001: 35 ff.). Gleichwohl eignen sich die Risikofaktoren vorzüglich, Präventionsmaßnahmen zu legitimieren, wobei ihnen doch die wissenschaftliche Reputation statistischer Analysen zugutekommt.
Prävention, Sicherheitsorientierung und Überwachung
Die Kalkulation von Risiken stellt eine Projektion, Antizipation und Prognose unerwünschter Phänomene und ihrer Bedingungen in die Zukunft dar. Auf der Grundlage von Risikofaktoren und Risikogruppen verändern sich die darauf bezogenen Dispositive, Maßnahmen und Interventionen, sie werden präventiv. Dies hat allerdings nicht nur einen Zeitbezug: „Handeln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sondern es verändert auch den Charakter der unerwünschten Phänomene und Probleme selbst. In den Vordergrund präventiver Dispositive rückt der potenzielle kollektive Schaden unerwünschter Handlungen: aus Kriminalität, psychischer Störung und Drogenkonsum wird ein Sicherheitsproblem. Nicht mehr das abweichende oder problembelastete Individuum mit unterschiedlichen Motiven, Kompetenzen, Erfahrungen und Ressourcen oder eine in der Realität beobachtbare problematische Situation ist der Ausgangspunkt und leitet die Intervention oder Hilfeleistung, sondern die Antizipation zukünftiger Schäden.
Die Folgen dieser Sicherheitsorientierung oder des „governing through risk“ sind allerdings durchaus ambivalent. Während klassischerweise unerwünschte Phänomene und Praktiken als Verstoß gegen Normen und Werte moralisch bewertet und, auf dieser Grundlage Individuen zur Verantwortung gezogen und als moralisch minderwertig oder defizitär stigmatisiert oder einer individuumszentrierten Behandlung unterzogen werden, bedeutet eine Risikoorientierung eine strikte Entmoralisierung. Es kommt nicht mehr darauf an, das Individuum zu reformieren und zu verändern oder das Verhalten moralisch zu verdammen, sondern es geht um ein folgen- bzw. schadensorientiertes Risikomanagement. Dies kann darin bestehen, Risiken des Auftretens von Problemen zu beheben und z. B. sozialpolitische oder sozialraumorientierte Maßnahmen zu legitimieren, indem über Risikofaktoren Hilfe- und Unterstützungsbedarfe identifiziert werden; es kann darin bestehen, technologische Lösungen der Verhinderung unerwünschten Verhaltens (z. B. automatisierte Zugangskontrollen, vgl. Krasmann 2003: 312 ff.; Lianos/Douglas 2000) zu etablieren oder schädliche Folgen unerwünschter Praktiken zu reduzieren. Diese Form der „harm reduction“ findet z. B. in der Drogenpolitik ihren Ausdruck; nicht mehr der Drogenkonsum bzw. die Drogenkonsument_innen werden problematisiert und behandelt, sondern die schädlichen gesundheitlichen Auswirkungen exzessiven Konsums werden über Gesundheitsräume und Spritzenausgabe und die Störungen im öffentlichen Räumen durch niedrigschwellige Cafés reguliert. Das konkrete Individuum als Subjekt ist hierbei dann nicht mehr Thema, sondern nur noch das (potenziell) schadensverursachte Handeln.
Prävention auf der Grundlage der Identifizierung von Risikofaktoren bedeutet aber auch die Ausweitung von Überwachungstechnologien, denn die Identifizierung von Risikogruppen und individuellen Risikoträgern setzt das Sammeln abstrakter Informationen und Daten voraus, auf deren Grundlage dann wiederum automatische Handlungsanlässe der Kontrolle erzeugt werden. „Die präventiven Politiken befassen sich nicht mehr in erster Linie mit Individuen, sondern mit Faktoren, mit statistischen Korrelationen heterogener Elemente. Sie dekonstruieren das konkrete Subjekt der Intervention und konstruieren ein Kombinatorium aller risikoträchtigen Faktoren. Ihre Hauptabsicht besteht nicht darin, eine konkrete Gefahrensituation anzugehen, sondern alle denkbaren Formen des Gefahreneintritts zu antizipieren. In der Tat eine ,Prävention‘, die dem Verdacht die wissenschaftliche Dignität einer Wahrscheinlichkeitsrechnung verleiht.“ (Castel 1983: 61) Die Risikoorientierung wird somit zu einem Sicherheitsdispositiv, indem die Abwendung von Bedrohungen nicht nur zum zentralen Maßstab professionellen Handelns, sondern auch des Alltaghandelns werden kann. Programme der „selective incapacitation“, d. h. des „Unschädlichmachens“ potenziell gefährlicher Individuen über Exklusion und Einschließung, sind ebenfalls Ausdruck einer Risiko- und Sicherheitsorientierung, die keineswegs auf einzelne Fälle in den USA begrenzt sind, sondern insbesondere im Hinblick auf bestimmte Tätergruppen, denen eine psychische Störung zugeschrieben wird (z. B. Sexualstraftäter), auch in Deutschland durchaus zunehmend praktiziert werden. Begründungen hierfür orientieren sich häufig weniger an einem besonderen Behandlungsbedarf, sondern explizit an Sicherheits- und Schutzerwägungen. Schließlich kann im Grenzfall die Antizipation von Risikoszenarien der Bedrohung durchaus auch den „Ausnahmezustand“ politischen und polizeilichen Handelns legitimieren (Agamben 2004).
Risiko und Verantwortung
Zentrales Element der Risikoorientierung ist ihr Bezug zu Verantwortungszuschreibungen. Gegenüber der Identifizierung von Risiken kann man sich nicht neutral verhalten. Wenn bestimme Phänomene oder Praktiken als Risiko beschrieben worden sind, dann kann man sich ihnen nicht mehr entziehen, insofern eine Fortsetzung der Praktiken oder auch nur Nichtberücksichtigung des Risikos in eigenen Handlungskalkülen bedeutet, sich für das Eingehen des Risikos zu entscheiden. In diesem Sinne ist die Thematisierung von Risiken im Unterschied zu Gefahren, denen man (passiv) ausgesetzt ist, als Entscheidungsproblem konzipiert: Risiken werden Entscheidungen zugerechnet, eintretende Schäden werden als Folge einer Entscheidung betrachtet und damit Verantwortung hergestellt (Luhmann 1991: 30 f.): Wer wider besseren Wissens raucht oder keinen Sport treibt, Vorsorgeuntersuchungen versäumt oder sein Fahrrad nicht abschließt und damit Risiken eingeht, muss damit rechnen, für dann eintretende Schäden verantwortlich gemacht zu werden. Risikodiskurse sind somit auch Technologien der „responsibilisation“, der Verantwortungszuschreibung, die dann mit einem „victim blaming“ verbunden ist. Zwar bedeutet die Entmoralisierung abweichenden Verhaltens im Rahmen von Risikodiskursen zunächst auch die Zuschreibung individueller Handlungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten, aber gleichzeitig eben auch die Vorschrift, von diesen Freiheiten den „richtigen“ Gebrauch zu machen. Diese Problematik ist besonders bedeutsam im Hinblick auf die Thematisierung von Risikoverhalten.
Devianz als Risikoverhalten
Ausgehend von der Gesundheitsforschung wird mittlerweile eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Praktiken als Risikoverhalten bezeichnet, d. h. als Praktiken, die in verschiedenen Bereichen und Feldern mit negativ bewerteten individuellen oder gesellschaftlichen Folgen verbunden werden. Nicht mehr die moralische Bewertung der Praktiken und die Orientierung an Normen und Werten stehen im Vordergrund der Problematisierung, sondern auch hier ist der Ausgangspunkt die zumeist unhinterfragte Identifizierung schädlicher Handlungsfolgen, die zumeist allerdings als Folgen individueller Handlungswahlen konzipiert sind. So herrscht mittlerweile nicht nur unter Public Health-Experten Konsens darüber, dass ein großer Teil der Krankheiten und des vorzeitigen Sterbens von den Individuen über die individuelle Wahl von Lebensstilen und gesundheitsschädlichen Verhaltensmustern selbst verschuldet ist (Groenemeyer 2001: 33). Insofern nicht mehr nur individuelle, sondern auch negative Auswirkungen für Andere und gesellschaftliche Folgen thematisiert werden, findet diese Logik Anwendung auf alle möglichen Formen, die ansonsten als abweichendes Verhalten problematisiert worden sind.
Für viele Autoren und Autorinnen kommt hierin ein Wandel der gesellschaftlichen Konzeption von Identität und Subjekten in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft zum Ausdruck (vgl. Groenemeyer 2001: 50 ff.). Dieser Wandel von „Subjektivierungsweisen“ lässt sich an den Entwicklungen der gesundheitswissenschaftlichen Konstruktion von Risiken aufzeigen. Frühe bio- und sozialmedizinische Konzeptionen von Gesundheit/Krankheit erklärten gesundheitliche Gefährdungen im Wesentlichen aus externen Einwirkungen auf den Körper oder die Psyche. Gesundheitspolitische Maßnahmen beziehen sich dementsprechend auf eine Veränderung gesundheitsbeeinträchtigender Umweltbedingungen durch Hygiene, Stärkung der Abwehrkräfte durch Vorsorge und Impfung sowie durch eine Verbesserung der Lebens- und Wohnbedingungen. In den siebziger Jahren fand dieses Modell teilweise eine Neubelebung über die Thematisierung von Umweltrisiken durch die Ökologiebewegung. Mit Diskussionen um die Bedeutung von Lebensweisen wurde dann ein biopsychosoziales Modell von Krankheit/Gesundheit propagiert, bei dem die aktive Auseinandersetzung der Individuen mit ihrer Umwelt betont wurde. Schließlich scheinen mit der Betonung von Risikoverhalten Umweltbedingungen nunmehr kaum noch eine Bedeutung zu haben. Individuen gehen Risiken ein, die ihre Gesundheit beeinträchtigen können. Entscheidend wird hierbei die soziale Umwelt nur noch insofern, als sie Ressourcen oder Belastungen generiert, die zur Herausbildung von Selbstkontrolle von Bedeutung sind. In diesem Sinne geht es dann bei der gesundheitsbezogenen Thematisierung von Lebensweisen oder Lebensstilen eher um deren individuelle Kontrolle und weniger um eine interaktive Auseinandersetzung mit den sozialen Bedingungen, die die Lebensweisen konstituieren oder beeinträchtigen.
Zumindest korrespondiert also die Problematisierung von Risikoverhalten mit Orientierungen einer Individualisierung sozialer Probleme, mit der die individuelle Handlungsfähigkeit und -verantwortung sowie deren sozialpolitische Förderung in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Prominenz von Konzepten wie Selbstkontrolle, Selbstwert und Kontrollüberzeugungen als zentrale Erklärungsvariablen sowohl in den sozialpsychologischen Sozialisationstheorien als auch in der Analyse abweichenden und gesundheitsbezogenen Verhaltens, aber auch die damit verbundenen Ideen eines „Empowerments“ oder der „Aktivierung“ als professionelle und sozialpolitische Leitideen liefern dazu entsprechende Orientierungen. Diskurse über Risikoverhalten markieren vordergründig eine individuelle Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit, aber sie beinhalten gleichzeitig auch Verhaltensvorschriften, von diesen Freiheiten einen bestimmten Gebrauch zu machen, die „richtige“ Wahl zu treffen (Castel 1983). In diesem Sinne ist z. B. auch eine Strategie des „Empowerments“ oder der Förderung von Handlungsfähigkeit immer daran gebunden, was mit ihr gemacht wird. Eine „falsche“ Entscheidung zeigt in dieser Logik automatisch einen Mangel an Selbstverantwortung und Rationalität und damit auch eine Unfähigkeit, freie Entscheidungen treffen zu können: „risk as moral danger“ (Lupton 1993).
Soziale Arbeit als Risikomanagement
Die Praxis Sozialer Arbeit als sog. personenbezogene Dienstleistung wird zumeist beschrieben als professionelle Hilfeleistung, Bildung, Erziehung oder Beratung von Personen, denen eine problematische Hilfebedürftigkeit oder Erziehungsnotwendigkeit zugeschrieben wird. Als Machttechnologie wird Pädagogik und Soziale Arbeit so als eine typische Form der Normalisierung über Techniken der Disziplinierung konzipiert, deren Fokus die Veränderung und Anpassung von Individuen darstellt (Foucault 1977). Über spezifisches individualisiertes Wissen, das sowohl die Grundlage der Disziplinierung darstellt als auch dessen Ergebnis, werden ebenfalls individualisiert-spezifische Ursachen des Falls zum Gegenstand der Behandlung, Therapie, Erziehung oder Beratung. Die zu bearbeitenden Probleme sind in dieser Perspektive konzipiert als individuelle Pathologien oder Defizite – Motivationen, Kompetenzen, Orientierungen, Ressourcen –, von denen zumeist angenommen wird, dass sie ihre Wurzeln und Ursachen in defizitären Lebens- und Sozialisationsbedingungen haben. Das professionelle Selbstverständnis betont von daher häufig die Notwendigkeit kommunikativer Kompetenzen, Empathie und erfahrungsgesättigter Intuition bei der Fallbearbeitung, die sich gegen jedwede Standardisierung und Technisierung sperrt: „Jeder Fall ist anders.“ Normativer Bezugspunkt professionellen Handelns ist zumeist eine Orientierung an die Herstellung von individuellen Handlungskompetenzen, sozialer Gerechtigkeit und Bildung über die Schaffung individueller Entwicklungsbedingungen. In dieser Perspektive ist Soziale Arbeit integraler Bestandteil soziapolitischer Inklusion, die sich am Ideal der Rehabilitation, Resozialisierung und Reintegration orientiert (vgl. Groenemeyer 2001a).
Während Foucault die Entstehung und Entwicklung sozialer Dienste der Rehabilitation und Resozialisierung dem Gesellschaftstypus der Disziplinargesellschaft zurechnet, markieren Risikodiskurse den Übergang zu einer „post-disziplinären Ordnung“, der „Verteidigung der Gesellschaft“ (Foucault 1999), in der die Macht und Kontrolle nicht mehr auf Individuen zielt, sondern auf den Gesellschaftskörper, d. h. auf Kollektive, die über Risikokonstellationen gebildet werden (vgl. insbesondere Krasmann 2003). „No-one was much interested anymore in the motives and meanings of these people. Instead what was at issue was what they did, how to control them, and how to minimize the harms they generated. Offenders and their offences were coming to be reframed less as the pathological products of societal and psychological breakdowns who needed to be therapeutically reformed, and more as bundles of harmful behaviours and potentialities.“ (O’Malley 2010: 1)
Die unmittelbare Bedeutung von Risikodiskursen und Risikodispositiven für die Soziale Arbeit kann als ein Wandel hin zu Strategien des Risikomanagements in der alltäglichen Arbeit verstanden werden. Die Identifizierung möglicher Risiken, ihre Bewertung und darauf bezogene Interventionsentscheidungen, die Herstellung von Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit und das Vermeiden des Eingehens von Risiken in Bezug auf die Klientel, aber auch im Hinblick auf die Folgen für die eigene Organisation stellen dabei die zentralen Orientierungsmarken dar. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass die Orientierung der Professionellen an Risiken im Gegensatz zu Orientierungen an Bedarfen der Adressaten geraten und die Wohlfahrtsorientierung zu Gunsten einer Risikoorientierung aufgegeben würde (z. B. Biggs 2013 mit weiteren Nachweisen) oder dass in Folge der Anwendung von Techniken des „risk assessments“ der persönliche interaktive Kontakt zwischen Klientel und Professionellen zunehmend ersetzt würde durch administrative Praktiken aus der Distanz (Castel 1983). Demgegenüber verweisen andere Autoren darauf, dass die verschiedenen Felder der Sozialen Arbeit zunehmend unter Legitimationsdruck von Öffentlichkeit, Medien und Politik geraten und sich von daher eine Sicherheitsorientierung ausbreitet, die insbesondere gestiegene Risiken des professionellen Handelns für die Organisation und für die Fachkräfte in den Vordergrund stellt (z. B. Biesel 2011; Rothstein et al. 2006).
Besonders in „sensiblen“ Feldern des Kindesschutzes, der Jugendgerichts- und Bewährungshilfe ist die professionelle Arbeit grundsätzlich durch Unsicherheit und Ungewissheit gekennzeichnet, insofern Entscheidungen mit gravierenden Auswirkungen auf die Betroffenen getroffen werden müssen. Es ist deshalb kein Zufall, dass insbesondere in diesen Feldern auf formalisierte und standardisierte Instrumente der Risikoidentifizierung und Risikobewertung zurückgegriffen wird. Dies passiert allerdings nicht nur, um zu einer besseren Entscheidungsgrundlage zu kommen, sondern auch, um im Nachhinein, wenn sich die Entscheidung als falsch herausgestellt hat, zumindest gegenüber Öffentlichkeit, Politik und auch den Gerichten dokumentieren zu können, dass die Entscheidung auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise zustande gekommen ist. In diesem Sinne ist die Soziale Arbeit heute sehr viel stärker von einer grundsätzlichen Sicherheitsorientierung geleitet, in der Verantwortungszuschreibungen zu einer eher defensiven Praxis des Umgehens mit Risiken führen. Ob dabei andere professionelle Standards der Orientierung an individuellen Hilfebedarfen, sozialer Gerechtigkeit und längerfristiger Orientierungen der Rehabilitation oder Resozialisierung aufgegeben werden, muss eine empirische Frage bleiben.
Literatur
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