Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen

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Das BMFSFJ hat nach dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und mit dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung den Dialogprozess zur inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe begonnen. Der Prozess schließt an eine über Jahre hinweg geführte Debatte an, wie eine Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann und welche rechtlichen und strukturellen Reformen hierzu notwendig sind. Verfahren und Instrumente wie die Hilfeplanung, einheitlicher Leistungstatbestand oder auch Hilfebeendigung und Verfahrenslotsen werden neben vielen Themen ausführlich diskutiert. Womit sich in den Debatten in der Kinder- und Jugendhilfe aber nur weniger befasst wird, sind die Lebenswelten und Lebenslagen junger Menschen und Familien mit Behinderungen. Die jungen Menschen mit Behinderungen werden, wenn sie „auftauchen“, als eine vornehmlich homogene (und defizitäre) Gruppe in der Diskussion betrachtet. Dies birgt – wie in anderen sozialwissenschaftlichen Forschungen herausgearbeitet wurde – die Gefahr, dass damit die Konstruktion eines konsistenten weißen Subjektes der Mittelschicht mit aktiven Eltern perpetuiert wird.

Diese Heftausgabe nähert sich daher verschiedenen Lebenslagen und -realitäten junger Menschen und Eltern mit Behinderungen an. Die Lebenslagen und -realitäten von Menschen mit Behinderungen sind vielfältig und müssen im Blick der Kinder- und Jugendhilfe für eine inklusive und bedarfsgerechte Ausgestaltung sein. Wie kann diskriminierungsfreie Teilhabe junger Menschen, wie sie im SGB VIII seit Juni 2021 verankert ist, im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht werden? Diese Frage greift Wolfgang Schröer in seinem rahmenden Beitrag auf und erörtert diese vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses von Inklusion und sozialer Integration. Die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung ist vielschichtig und von Emanzipation und dem Kampf um Selbstbestimmung gekennzeichnet. Der Beitrag von Swantje Köbsell zeichnet die Entwicklung der Behindertenbewegung und -rechte in Westdeutschland nach und reflektiert den Weg von Fremdbestimmung zu mehr Selbstbestimmung bis hin zu aktuellen Entwicklungen. Benedikt Hopmann diskutiert in seinem Beitrag die Engführungen in der Begriffsdebatte um „Behinderung“ und greift Impulse aus den (Critical) Disabilities Studies auf, um Konsequenzen für die Diskussion um „Behinderung“ in der Kinder- und Jugendhilfe zu ziehen.

Das Gespräch mit Franziska Rien und Lukas Köpp, zwei jungen tauben Menschen, erlaubt Einblick in die Alltagserfahrungen in einer audistischen Gesellschaft und Perspektiven der beiden Gesprächspartner*innen. In der Diskussion um eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe müssen auch Eltern mit Behinderungen und Elternschaft in den Blick genommen werden. Diesen Aspekt führen Imke Bartels und Kerstin Blochberger in ihrem Beitrag aus und erörtern, was es für selbstbestimmte Elternschaft braucht. Sabrina Schramme arbeitet in ihrem Beitrag aktuelle Entwicklungen zum Thema Behinderung und Geschlecht in Bezug auf Kinder und Jugendliche heraus und zieht Schlussfolgerungen für eine intersektional ausgerichtete Inklusive Pädagogik. Abschließend steht im Beitrag von Eric van Santen die Datenlage zur Lebenswelt junger Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt, indem er Datenquellen zur Lebenslage als auch die Entwicklung der amtlichen Eingliederungsstatistik in den Blick nimmt. Die Beiträge beleuchten – sicher nicht abschließend – Kernthemen für eine subjektorientierte Ausgestaltung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Die Verwirklichung von Rechten zur diskriminierungsfreien Teilhabe braucht ein breites (Fach-)Wissen über die Lebenssituationen der betreffenden Menschen, von daher müssen die Lebenslagen und -realitäten junger Menschen und Eltern mit Behinderungen stärker in den Blick genommen werden. Junge Menschen und Eltern müssen gleichberechtigt in die Reformdiskussionen mit ihren Erfahrungen und Sichtweisen einbezogen werden.

Tabea Möller (Referentin im Beratungsforum JUGEND STÄRKEN, IGfH ) und Stefan Wedermann (Fachreferent IGfH )

Aus dem Inhalt

Wolfgang Schröer: Diskriminierungsfreie Teilhabe in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ermöglichen (...)

Swantje Köbsell: Behinderten(rechts-)bewegung – Eine Geschichte der Selbstbestimmung und Emanzipation

Benedikt Hopmann: Behinderung – Zur Notwendigkeit der Erweiterung einer bislang kaum geführten Begriffsdebatte

„Die Gesellschaft hat Behinderungen und behindert uns“ Ein Gespräch mit Franziska Rien und Lukas Köpp

Kerstin Blochberger, Imke Bartels: Eltern mit Behinderung. Erfahrungen und Anforderungen an eine inklusive Kinderund Jugendhilfe

Sabrina Schramme: Behinderung und Geschlecht: Entwicklungen und Anforderungen für eine Inklusive Pädagogik

Eric van Santen: Empirische Ergebnisse zur Lebenswelt von Jugendlichen mit Behinderung sowie Entwicklungen der Statistiken zur Eingliederungshilfe

 

Norbert Struck: Das Recht auf Wiedergutmachung – aus welchen Kontexten die Kinder- und Jugendhilfe lernen muss, wenn sie sich für die Rechte ehemaliger Heimkinder engagiert

Henriette Katzenstein, Carmen Thiele: Sieben Thesen zur Zusammenarbeit zwischen Pflegekindern, Pflegeeltern und Vormund*innen

Thomas Trenczek: Verschiebebahnhöfe? Rechtliche Fragen zur Beendigung der Unterbringung von Minderjährigen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie