Junge Wohnungslose

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ForE 1-2019

Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit von jungen Menschen in Deutschland sind kein Randphänomen. Junge wohnungslose Menschen werden oft ausgegrenzt und an den Stadtrand verbannt. Dass junge Menschen und auch Minderjährige wohnungslos sind, muss in weiten Teilen auch als Scheitern des Kinder- und Jugendhilfesystems verstanden werden. Expert_innen gehen aktuell davon aus, dass in Deutschland 37.000 junge Menschen bis 26 Jahren ohne festen Wohnsitz leben, davon ca. 6.500 Minderjährige. Sie schlafen bei Freunden auf dem Sofa oder auf der Straße und leben unter extrem schwierigen Bedingungen, oft in starken Abhängigkeiten, die nicht selten mit Ausbeutungsverhältnissen einhergehen. Viele dieser jungen Menschen haben ‚Jugendhilfe-Erfahrungen‘ (ambulant oder stationär), viele wurden ohne Wohnung und gesicherte Existenz aus der Jugendhilfe entlassen, einige haben nach der Jugendhilfe nie eine feste Wohnung gefunden bzw. diese durch eine fehlende Nachbetreuung wieder verloren. Einige sind aus Einrichtungen der Jugendhilfe aufgrund der rigiden Settings verwiesen worden oder ‚geflohen‘. Junge Wohnungslose werden oft nicht von der Jugendhilfe erreicht, da die Schwellen zu hoch sind oder Hilfen am individuellen Bedarf der jungen Menschen vorbeigehen.

Die 2017 veröffentlichte DJI-Studie von Sarah Beierle und Carolin Hoch zu ‚Straßenjugendliche‘ hat das Thema wieder ins fachpolitische Bewusstsein gehoben. Das Projekt „Gut begleitet ins Erwachsenenleben“ (Uni Hildesheim und IGfH ) hat am Standort Karlsruhe die Stolperfallen einer fehlenden Übergangsbegleitung im Kinder- und Jugendhilfesystem anhand von Interviews mit Fachkräften und betroffenen jungen Erwachsenen rekonstruiert. Parallel dazu erreicht die Selbstorganisation von ‚Straßenjugendlichen‘ MOMO – The voice of disconnected youth durch bundesweite Straßenkinderkonferenzen eine breite Öffentlichkeit bis hin zum Bundesfamilienministerium. Was aber weiterhin fehlt, ist ein breiter Diskurs zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der Wohnungslosigkeit junger Menschen und Careleaver.

Mit diesem Heft soll die Problematik wohnungsloser junger Menschen wieder ins Zentrum der Fachdiskussion in den Erziehungshilfen gerückt werden. In seinem explorativen Beitrag führt Thomas Specht dazu grundlegend in das Themenfeld junge Wohnungslose und Kinder- und Jugendhilfe ein. Er stellt pointiert dar, dass und wie „die Hilfegewährung [...] durch Zuständigkeitskonflikte zwischen unterschiedlichen Kostenträgern erschwert“ wird. An den Schnittstellen von Jugendhilfe und Wohnungslosenhilfe skizziert er Problemlagen, Hilfebedarfe sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen und arbeitet heraus, wie die jungen Menschen besser erreicht werden könnten. Carolin Hoch und Sarah Beierle stellen anschließend Kernbefunde ihrer Studie aus 2017 vor und fokussieren hierbei insbesondere auf die Quantifizierung von wohnungslosen jungen Menschen. Über die oben bereits erwähnten 6.500 Minderjährigen ohne festen Wohnsitz in Deutschland hinaus sind 12.500 junge Volljährige zwischen 18 und 20 Jahren wohnungslos. Britta Sievers konturiert in ihrem Beitrag, wie eine pädagogischen Haltung in der Arbeit mit jungen Erwachsene in der Jugend- und Wohnungslosenhilfe aussehen kann und bringt dafür O-Töne von Fachkräften und jungen Careleavern in den Dialog. Claudia Daigler reflektiert das Thema vor dem Hintergrund junger Frauen in der Wohnungslosenhilfe mit ‚Jugendhilfe-Erfahrung‘ und deren besondere Bedarfe. Sie plädiert dabei nicht nur für einen Ausbau der Hilfen für junge Frauen in der Wohnungslosennotfallhilfe, sondern für einen umfassenden Strukturwandel der Jugendhilfe, die auf die Relevanz der Kategorie Gender in durch Systemfehler erzeugten biografischen Brüchen und nicht begleiteten Übergängen reflektieren und auf die Stärkung vernetzter, niedrigschwelliger Hilfen zielen muss. Thomas Velmerig stellt in seinem Beitrag den Fachdienst „Hilfen für junge Erwachsene“ des Katholischen Sozialdienstes e.V. in Hamm vor, der sich niedrigschwellig auch um die Bedarfe junger Wohnungsloser kümmert bzw. diese verhindern kann. Er skizziert, wie eine gute kooperative Gestaltung der verschiedenen Leistungssysteme im Sinne der jungen Hilfesuchenden aussehen kann. Stefan Wedermann rekonstruiert im Gespräch mit MOMO, was die Ziele der Selbstorganisation von jungen Wohnungslosen sind, wie junge Menschen in die Wohnungslosigkeit geraten und welche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe es aus Sicht von MOMO braucht.

Josef Koch, Britta Sievers und Stefan Wedermann

 

Aus dem Inhalt

Norbert Struck: Junge Flüchtlinge: ihr Recht auf  Bildung

Thomas Specht: Junge Menschen in den Hilfen im Wohnungsnotfall (Wohnungslosenhilfe)  – Gesellschaftliche Bedingungen und die Verantwortung der Jugendhilfe

Caroline Hoch, Sarah Beierle: Junge Menschen auf der Straße: Quantifizierung, Beschreibung der Zielgruppe und Hilfesystem

Britta Sievers: „Ich bin an erster Stelle ‒ und nicht was mein Jugendamt möchte…“ ‒ Haltungen und Bedarfe in der Arbeit mit jungen Menschen in der Jugend- und  Wohnungslosenhilfe

Claudia Daigler: Verdeckte Verhältnisse – Prekäres Wohnen von jungen Frauen zwischen Jugendhilfe, Freunden und Wohnungsnotfallhilfe

Thomas Velmerig: Die Arbeit des Fachdienstes „Hilfen für junge Erwachsene“ des Katholischen Sozialdienstes e.V., Hamm – ein Beispiel guter Praxis

Stefan Wedermann: Im Einsatz für Kinderrechte und bessere Lebensbedingungen von junge Wohnungslosen. Die Selbstorganisation von Straßenjugendlichen ‚MOMO – The voice of disconnected youth‘

FICE Israel, übersetzt von Lisa Albrecht: „Better Future Opportunities for Children in Multicultural Societies“ 34. FICE International World Congress 2019 in Tel Aviv

Nicolette Seiterle: Die Pflegekinderhilfe in der Schweiz: Aktuelle Zahlen und Strukturen

Clara Bombach, Thomas Gabriel, Samuel Keller: Lebenswege nach Heimerziehung in der Schweiz – Was aus Erkenntnissen einer biografischen Studie gelernt werden kann

Juliane Meinhold: Einschätzungen zum Referentenentwurf des Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes