Zeitbalancen - Zeit in den Erziehungshilfen

ForE 5-2004

„Alles gleichzeitig und zwar sofort“, so lautet der Titel eines Buches des bekannten Wirtschaftspädagogen Karl-Heinz Geißler. Er schildert, was wir täglich erfahren: Zeit ist zu einem knappen Gut geworden. Sowohl im Erwerbsleben als auch im privaten Bereich herrschen Zeitdruck, Zeitnot oder Zeitstress. Wir wissen aber auch: Lebensqualität hat viel mit Zeit zu tun. Nach den Kriterien der neuen Bewegung für Zeitpolitik verfügt über Zeitwohlstand, wer über die eigene Zeit selbst bestimmen kann, wer Zeit für sich und andere Menschen, für Beziehungen und Bindungen hat.

In den Erziehungshilfen geht es um die Wiederherstellung und Verbesserung der individuellen oder familialen Lebensqualität und -kompetenz. Zu einem selbstbestimmten und verantwortlichen Leben gehört ganz zentral die ausbalancierte Gestaltung von Lebenszeiten als Zeiten der Entwicklung, der Arbeit, der Familie, der Partnerschaft, der Beziehungsstiftung, der Fremdbestimmtheit und Eigennutzung. Die Erziehungshilfen haben viel mit dem Erkennen der Eigenzeiten in der Erziehung und im Hilfeprozess zu tun. Die Gestaltung von Anfängen, von Abschlüssen und Abschieden, Pausen, Wiederholungen und das Umgehen mit Gleichzeitigkeiten sind hier angesprochen. Vor allem jungen Menschen helfen, ihre angemessenen Geschwindigkeiten zu finden, mit Unsicherheit umgehen zu können, sich zu konzentrieren auf die Gegenwart, den Augenblick, und trotzdem planen können für die Zukunft, das alles erfordert erprobte Zeitbalancen.

Aktuell ist der Respekt vor den eigenen Zeitmustern der HilfeadressatInnen (Hans Thiersch) durch eine radikale Ökonomisierung der zur Verfügung gestellten und abzurechnenden Zeit für die Hilfen zur Erziehung häufig in Frage gestellt. „Zeit ist Geld“ lautet das in der Kinder- und Jugendhilfe immer stärker hervortretende Motto und meint die genaue Bilanzierung und immer öfter auch die Einschränkung der gesellschaftlich zur Verfügung gestellten Zeit für Unterstützung und Hilfe in schwierigen Lebenslagen für jungen Menschen und ihre Familien.

Die Beiträge in diesem Heft widmen sich den angesprochenen Zeitbalancen in den Erziehungshilfen. Hans Thiersch nähert sich in neun essayistisch niedergelegten Zugängen den Momenten der Zeiterfahrung im menschlichen Leben und im Erziehungsprozess. Er zeigt, in welchen Spannungsverhältnissen von Zeit-Mustern PädagogInnen agieren, wenn sie Kindern und Heranwachsenden beim Lernen des Zeitmanagements fördernd begleiten und dazu ihr eigenes Zeitmanagement gestalten müssen. Er warnt davor, das Muster der rational strukturierten beschleunigten Zeit auf pädagogisches Handeln zu übertragen. Silke Kultscher greift diese Warnung auf und diskutiert die festgelegte zeitliche Begrenzung von Hilfen und Erziehungsunterstützungen. Die Autorin versucht zu trennen zwischen einer im Konsens mit allen Beteiligten erarbeiteten Zielstellung, aus der dann voraussichtlich benötigte Zeiten für Arbeitsbündnisse abgeleitet werden, und einem vorab festgelegten Zeitkontingent für die Erziehungshilfe, was lediglich Spargesichtspunkten folgt. Dann würde sich die sozialpädagogische Unterstützungsfrage darauf konzentrieren müssen, was in der zur Verfügung stehenden Zeit gemeinsam voraussichtlich erreicht werden kann. Cornelia Jager fragt aus der Sicht des ASD nach dem Zusammenhang von Zeitdruck und dem Risiko für Fehlentscheidungen. Sie entwickelt diesen Zusammenhang anhand des Zusammenwirkens der Fachkräfte und der Betroffenen während der Hilfeplanung. Die Autorin plädiert klar dafür, in die Anfänge von Kontakten, in die Problem- und Ressourcenklärung, in das Verstehen mehr Zeit von Seiten der Professionellen zu investieren. Sie lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie die zur Verfügung stehende Zeit in den Erziehungshilfen professionell genutzt und gestaltet wird. Schließlich fragt Wilfried Stein am Beispiel der Fachleistungsstunde nach dem Zusammenhang von zeitbezogenen Meßsystemen und transparenter Zeitgestaltung zum Aufbau eines Arbeitsbündnisses. Hinter jedem Beitrag finden sich Aussagen und Reaktionen von Fachkräften aus den Erziehungshilfen, die sie gegeben haben auf die Aussage eines Jugendlichen, der zu ihnen sagte: „Dann hat er oder sie keine Zeit für mich...“

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Hans Thiersch:
Zeit (Eine Skizze)

Silke Kultscher:
„Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht“

Cornelia Jager:
Keine Zeit für qualifizierte Hilfeplanung?

Wilfried Stein:
Die Fachleistungsstunde als sinnvolle Maßeinheit in den Ambulanten Erziehungshilfen?

Chantal Munsch:
Straßenkinder in Tadschikistan

Thomas Drößler:
S
tichwort: Hartz VI

Josef Koch:
Ausschreiben, anschreiben, abschreiben? Wie Konzeptdebatten auf die Gerichte verlagert werden

Rüdiger Meier:
Vorläufiger Stopp der "Sozialraumbudgetierung" der ambulanten Jugendhilfe in Hamburg

Axel Stähr:
Zulässigkeit der Auswahl von freien Trägern im Rahmen des Konzepts der Sozialraumorientierung

Ulla Engler:
Interessenbekundungsverfahren

Schlagwörter
Erscheinungsjahr
2004
Ausgabe
5
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2004