Eigenverantwortung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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„Wenn es so etwas wie einen Wortverbrauchszähler gäbe“, so R. Leicht (Die Zeit v. 22.12.2003), „dann hätte er … einen Maximalverbrauch des Begriffs ,Eigenverantwortung‘ angezeigt. … Jeder redet von Eigenverantwortung, aber wer weiß, was er wirklich damit meint?“ Was man vielleicht schon ahnt, macht R. Leicht auch deutlich: Der Begriff gehört seit John Stuart Mill – etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts – zum Grundinventar des Liberalismus. „Von diesen Ansätzen zieht sich eine Traditionslinie bis in die Moderne hinein. Der Nationalökonom Wilhelm Röpke schrieb 1979: „In der Tat droht die im Einzelnen und seiner Selbstverantwortung liegende geheime Triebfeder der Gesellschaft zu erschlaffen, wenn die Ausgleichsmaschine des Wohlfahrtsstaates sowohl die positiven Folgen der Mehrleistung wie die negativen der Minderleistung abstumpft“ (Leicht a. a. O.). Man sieht also, um was es geht – die Zurückdrängung vorgeblich überzogener Ansprüche gegenüber sozialstaatlichen Leistungen und die neo-liberale Wiederbetonung der Eigen-Verantwortung des abstrakten, (begrifflich) ungesellschaftlich gedachten Einzelnen. Diese Entwicklung betrifft insbesondere auch junge Menschen/Heranwachsende und das bisher für sie geltende Verständnis von „Eigenverantwortung“. Insofern können wir die Eingangsfrage wieder aufnehmen: Jeder redet von Eigenverantwortung, aber wer weiß, was er wirklich damit meint?

 

Die sozialstaatliche Zäsur des SGB II

Hartz IV hat – sozialstaatlich betrachtet – ab dem Jahr 2005 nicht nur den größten sozialpolitischen Wechsel im System der sozialen Sicherung seit Gründung der BRD gebracht, die neuen Sozialgesetzbücher haben auch mit ihrem Paradigmenwechsel eine Sogwirkung auf vorbildliche sozialstaatliche Leistungsgesetze bewirkt, gemeint ist insbesondere die Jugendhilfe und dort die Jugendsozialarbeit. Ausgehend von der sozialstaatlichen Zäsur des SGB II 2005, dem damit eingeführten, von der Jugendhilfe elementar abweichenden Grundverständnis von „Eigenverantwortung“ und „Hilfe“, dem verstärkten Sanktionsrecht gegenüber jungen Menschen, den restriktiven Stellschrauben des Vor- und Nachrangprinzips sowie der hochschwelligen Definition der Mitwirkungspflichten durch die Sozialleistungsträger, bedarf es einer Verstärkung der Verfahrensrechte der Betroffenen.

Diese Konsequenz ergibt sich, weil es fast so wirkt, als sei mit Hartz IV ein neuer Sozialstaatsartikel ins Grundgesetz eingefügt worden, der da lautet: Auf soziale Sicherung hat nur Anspruch, wer ohne Widerspruch bereit ist, die zumutbaren Ausgrenzungen des Arbeitsmarktes mittels unzumutbarer Arbeitsgelegenheiten auszugleichen. Und wird dieses Verständnis von  Sozialstaatlichkeit praktisch in den unantastbaren Verfassungsrang gehoben, definieren sich die Selbstverständnisse, Auslegungen, Richtlinien der einfachgesetzlichen Sozialleistungen mit Berührungen zu Hartz IV en passant von selbst neu. Diejenigen Teile der Jugendhilfe, die wie die Jugendsozialarbeit mit sozialer Sicherung (junger Menschen) zu tun haben, sollen mit dieser neuen und verbreiteten sozialstaatlichen Denkweise zum Appendix von Hartz IV werden.

Für junge Arbeitsuchende im Alter zwischen 15 und 25 Jahren verändern sich mit dem SGB II die Bedingungen ihrer materiellen Existenzsicherung. Grundsätzlich ist das SGB II das gesetzgewordene Nadelöhr der Existenzsicherung auf Sozialhilfeniveau für diejenigen jungen Menschen (regelmäßig) nach Erfüllung der Schulpflicht, die erwerbsfähig sind und über kein weiterführendes schulisches bzw. berufliches Ausbildungsangebot sowie über keine – ihre Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II ausschließende – Beschäftigung verfügen; es regelt Besonderheiten für die berufliche Eingliederung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen vor Vollendung des 25. Lebensjahres. Junge erwerbsfähige Menschen dieser Altersgruppe erhalten im Falle fehlender Deckung ihres notwendigen Lebensunterhaltes Grundsicherung für Arbeitsuchende unter den allgemeinen und altersspezifischen Vorgaben des SGB II.

Diesem Leistungsangebot liegt das Grundverständnis zugrunde, dass erwerbsfähige Personen ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten haben. Ist diese Voraussetzung im Einzelfall nicht gegeben, sind Leistungen bereitzustellen, die eine Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Ist diese Integration in absehbarer Zeit nicht zu erreichen, hat der Hilfebedürftige eine ihm angebotene zumutbare anderweitige Beschäftigung zu übernehmen, um die leistungsbegründende Hilfebedürftigkeit zu beenden. Unter den Schlagwörtern des „Förderns“ und „Forderns“ wird im SGB II eine sog. Aktivierung der Selbsthilfekräfte eingefordert. Dementsprechend erhalten „aktivierende“ Leistungen Vorrang vor Transferleistungen, die in den Begründungen auch als „passivierende“ Leistungen bezeichnet und so nicht als Lösung existenzieller Notlagen, sondern als Teil des Problems dargestellt werden. Ganz wesentlich für die vorgenommene sozialstaatliche Zäsur ist die Kopplung der „existenzsichernden“ Leistungen bei erwerbsfähigen Personen an die „Gegenleistung“ eines nahezu uneingeschränkten Einsatzes der eigenen Arbeitskraft, als würde die über das Fordern, den Sanktionsdruck erzwungene Arbeitsbereitschaft Arbeitslosigkeit selbst bekämpfen können (vgl. ISG 2014)

 

Das andere Verständnis von „Eigenverantwortung“, „Hilfe“ und Sanktionierung

Deutliche Differenzen im Grundverständnis beziehen sich bei einer Gegenüberstellung vom SGB II und SGB VIII auf den Umgang mit der Anforderung „Eigenverantwortung“ und dem „Hilfebegriff“.

Das SGB II führt den Begriff der „Eigenverantwortung“ als zentrale Forderung in seinem ersten Gesetzessatz in § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II ein. Entscheidend für die Stärkung der Eigenverantwortung ist die Legaldefinition des SGB II zum „Fordern“ (§ 2 SGB II). „Eigenverantwortung“ des SGB II reduziert sich im Wesentlichen auf Eigeninitiative als Eigenbemühung um berufliche Eingliederung, um in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen (vgl. BT- Drs 15/1516: 51). Demgegenüber meint § 1 SGB VIII mit dem Förderungsziel einer „eigenverantwortlichen“ Persönlichkeit einen offenen Entwicklungsprozess eines persönlichen Wunsch- und Wahlrechtes hinsichtlich dafür förderlicher Hilfen, Unterstützungen, Angebote, beeinflussbarer Umwelt- und Lebensbedingungen. Und in diesem Sinne kennzeichnet Jugendhilfe ein grundsätzliches Selbstverständnis, den jungen Menschen umfassend in seiner Lebenslage und in seinen Ressourcen begreifen zu wollen.

Ähnlich different ist der „Hilfebegriff“ des SGB II im Vergleich zum SGB VIII. Die Kinder- und Jugendhilfe geht im Hilfeverständnis von einem Recht auf Erziehung junger Menschen aus im Sinne sozialstaatlich geförderter Persönlichkeitsentwicklung und einer Selbstverwirklichung durch freiwillige Selbstbestimmung. Jugendhilfe ist persönliche Hilfe nach eigenen Vorstellungen junger Menschen. Demgegenüber ist der Hilfebegriff des SGB II monetär, vordergründig, nicht nachhaltig, nicht auf interaktive Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung, sondern fürsorglich-autoritär – also grundsätzlich anders als Jugendhilfe, die von Freiwilligkeit getragen nicht einseitig Hilfe verfügen und aufdrängen will, sondern ein im Bemühen um sozialen Ausgleich offen ausgehandeltes, umfassendes Hilfeangebot der Bedarfsgerechtigkeit im Einzelfall ist.

Gänzlich unvereinbar mit Jugendhilfe sind die verschärften Sanktionsrechte gegenüber jungen Menschen nach § 31a Abs. 2 SGB II. Danach hat eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II bei jungen Hilfebedürftigen beim ersten Mal die Folge, dass nur noch Leistungen für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, im Wiederholungsfall zur Folge, dass die Leistungen vollständig gestrichen werden. Die „Eigenverantwortung“ des SGB II dient offensichtlich lediglich zur Ableitung von Pflichten und die mit etwaigen Pflichtverletzungen verbundenen Rechtsfolgen.* Der mit dem Sanktionsrecht dem Fallmanagement der Jobcenter eingeräumte (jugendhilfrechtlich unzulässige) Übergriff lässt zu, dass immer dann, wenn es anderer Meinung ist als ihr Klientel, mit den ihnen eingeräumten Zwangsmitteln mittels Eingliederungsvereinbarungen und notfalls Sanktionierungen einseitig festgelegt werden kann, was den (jungen) Arbeitslosen (angeblich) gut tut. So äußert sich auch die Bundesagentur in ihrem Kompendium, dass die Betreuung dieser besonderen Altersgruppe unter den Arbeitsuchenden „auf sofortige Vermittlung“ ausgerichtet sei und Verstöße gegen die Eingliederungsvereinbarung „erhebliche rechtliche Konsequenzen (…) für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und seine Bedarfsgemeinschaft“ zur Folge habe.**

 

Das andere Selbstverständnis des SGB VIII

Gegenüber dem Grundverständnis des SGB II verstehen sich in der Jugendhilfe die Begriffe der Eigenverantwortung, der Hilfe und der Sanktionierung gänzlich anders. Die Eigenverantwortung junger Menschen wird nach § 1 Abs. 1 SGB VIII nicht vorausgesetzt, sondern ist durch Jugendhilfe zu erreichendes Förderungsziel zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. „Hilfe“ versteht sich somit persönlich-biographisch zwischen Subjekten des Hilfeprozesses. Jugendhilfe ist somit keine „verhartzte“ Zwangsveranstaltung, ist grundlegend anders, ist Erziehung im Mollenhauerschen Sinne, nämlich Spruch und Widerspruch zwischen Subjekten, die sich nicht zu Objekten degradieren lassen. Würde Bevormundung gleichwohl passieren, machte Hilfe keinen Sinn. Oder wie J. Münder es mal ausgedrückt hat: Das KJHG, die Jugendhilfe meint aus Sicht der Kinder, Jugendlichen, Familien grundsätzlich „Selbstverwirklichung nach eigenen Vorstellungen“. Das bedeutet doch im guten emanzipatorischen Sinne: Kinder, Jugendliche und ihre Familien sollen die Hilfen von den Jugendämtern bewilligt erhalten, die sie als junge Menschen (und Familien) brauchen und wollen zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit und von denen sie meinen, dass sie für sie förderlich sind – nicht im Sinne einer vorgegebenen Normalbiografie, allenfalls als Aushandlung darüber, was für die Entwicklung des konkreten Kindeswohls geeignet und notwendig wäre. Und wenn § 1 KJHG von dem Förderungsziel einer „eigenverantwortlichen“ Persönlichkeit ausgeht, dann ist der Begriff hier als offener Entwicklungsprozess eines persönlichen Wunsch- und Wahlrechtes angelegt, während der gleiche Begriff bei Hartz IV autoritär-fürsorglich gemeint ist in der Weise, dass dort die Fallmanager am besten wissen, was den (jungen) Arbeitslosen gut tut und Angebote wie im Film „Der Pate“ unterbreiten: „Ich mache ihnen ein Angebot, was sie nicht ablehnen können.“

Dagegen versteht sich die Jugendhilfe als Einheit, nicht als formal-versäultes Hilfeinstrumentarium, sondern als umfassendes persönliches Hilfeangebot der Bedarfsgerechtigkeit im Einzelfall und des Bemühens um sozialen Ausgleich. Und deshalb kennt Jugendhilfe grundsätzlich keine Sanktionierung, weil sie im vorgenannten Sinne Begleitung, Beratung, Betreuung, Unterstützung  ist. Im Vergleich der beiden Grundverständnisse des SGB II und SGB VIII wird anschaulich, warum das Bild vom Verhältnis der beiden Sozialleistungsgesetze wie „Feuer und Wasser“ zueinander zutreffend ist: Sie sind unvereinbar different im Grundverständnis.

Jugendhilfe ist deshalb ein aliud zum SGB II, ist im Leistungsbereich der §§ 11–41 SGB VIII keine drohende oder ausgeübte Zwangsveranstaltung, ist grundlegend anders, ist „Erziehung“ im Mollenhauerschen Sinne, nämlich Spruch und Widerspruch zwischen Subjekten, die sich nicht zu Objekten degradieren lassen. Würde Bevormundung oder gar Sanktionierung wegen fehlender Eigenverantwortung gleichwohl passieren, machte (Jugend-)Hilfe ohnehin keinen Sinn.*** Der menschenunwürdige Versuch des SGB II, insbesondere junge Menschen sinnlos durch Sozialleistungsentzug zu verarmen, wenn sie sich nicht genügend konform verhalten, wird auf zynische Weise den Bedarf an Jugendhilfe, an Hilfen der Jugendsozialarbeit fördern.

 

Die Stellschraube des Vor- und Nachrangprinzips

Mit der Umsetzung des SGB II und des SGB XII stellt sich nicht nur für die Jugendhilfe, sondern auch für eine Reihe anderer Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit (z. B. Wohnungslosenhilfe, Suchthilfe, soziale Schuldnerberatung) die Frage, inwieweit diese Neuregelungen wegen ihres umfassenden Anwendungsbereiches (berechtigt sind fast alle Erwerbsfähigen) Einfluss nehmen auf die angrenzenden Leistungsbereiche anderer Sozialgesetzbücher. Grundsätzlich haben sozialgesetzliche Regeln zum Nachrang die Funktion, aus einer begründeten materiellen Sachnähe und daraus resultierender Fachlichkeit diejenige sachliche Zuständigkeit gesetzlich zu regeln, die generell optimale Beurteilungen der Anspruchsvoraussetzungen im Einzelfall ermöglicht. So regelt § 5 SGB II allgemein das Rangverhältnis zu anderen Leistungen und stellt in seinem Absatz 1 sicher, dass Verpflichtungen und Leistungen Anderer Vorrang haben vor Leistungen nach dem SGB II (vgl. hierzu auch BT-Drs. 15/ 1516: 51).

Mit dem SGB II ist die Jugendhilfe und hier insbesondere die Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII durch § 3 Abs. 2 SGB II und die dort geregelte Leistung der Eingliederung in Arbeit für junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren tangiert: Viele Jugendämter nutzten die unklare Vor- und Nachrangfrage und erklärten vor dem Hintergrund einer schwierigen Kassenlage, sie brauchten die arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit wegen der besonderen Eingliederungshilfen des SGB II nun nicht mehr, insoweit sei der § 13 SGB VIII weitgehend obsolet geworden****, und andere demgegenüber meinten, die Neuregelungen des SGB II würden lediglich den Leistungsbereich der Jugendsozialarbeit ergänzen, weil § 13 SGB VIII der wesentlich weitergehende Sozialleistungsanspruch für junge Menschen mit Integrationsproblemen sei und grundsätzlich Auffangfunktion habe.

Was aus der sozialgesetzlichen Regelung zur Nachrangigkeit des § 13 SGB VIII für die Leistungsbereiche der Jugendsozialarbeit folgt, ergibt erst ein Abgleich kongruenter und somit konkurrierender Sozialleistungen, also ein Abgleich von Tatbestand und Rechtsfolge in § 3 Abs. 2 SGB II und § 13 SGB VIII „anhand des jeweiligen Leistungszwecks“ (Wiesner u. a., § 10 Rn. 8). Nur bei kongruenten Sozialleistungen entscheidet eine spezielle Kollisionsnorm den Vorrang der einen Norm gegenüber der anderen; nur wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der konkurrierenden Paragraphen gegeben sind und grundsätzlich ein Leistungsanspruch gegenüber allen beteiligten Sozialleistungsträgern besteht, wird § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII wirksam.*****

Es gilt daher grundsätzlich festzustellen: Der Gesetzgeber hat sich ab dem 01.01.2005 mit § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB II für einen schmaleren Anwendungsbereich des § 13 KJHG entschieden, aber zugleich nicht für eine umfassende Vorrangstellung der Leistungsträger des SGB II. Es bleibt bei dem eigenständigen Aufgabenbereich der Jugendsozialarbeit als individuellem Soll-Anspruch junger Menschen, wenn sie in erhöhtem Maße einer sozialpädagogischen Unterstützung zu ihrer sozialen Integration bedürfen – und dies haben die Jugendämter, die verfassungsrechtlich an Gesetz und Recht gebunden sind, zu beachten.

 

Die Stellschraube der Mitwirkungspflicht

Die Rechte, die junge Menschen und ihre Familien nach den Sozialgesetzbüchern zur Mitwirkung haben, dienen vor allem der Durchsetzung der Rechte der Beteiligten, nicht zu deren Infragestellung oder gar Verhinderung. Auch wenn für Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII kein Antragserfordernis geregelt ist, formal bleiben gleichwohl Beteiligung und Mitwirkung der Hilfebedürftigen nach den §§ 60 ff. SGB I erforderlich, um alle für die Entscheidung erheblichen Tatsachen im Einzelfall zu ermitteln. Und materiell ist die Mitwirkung und Beteiligung von jungen Menschen und ihren Familien erforderlich (allerdings auch zu motivieren in der Herstellung), weil die Förderung der eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Entwicklung der Persönlichkeit junger Menschen nur mit ihnen und samt ihrer Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Beteiligung am Hilfeprozess gelingen kann (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).

Kaum ein anderes Sozialgesetz formuliert – über das SGB I hinaus – so weitgehende Mitwirkungsrechte der Betroffenen wie das SGB VIII (§§ 5, 8, 36), und doch gelingt deren Umsetzung oftmals nicht (z. B. wegen fehlender ausreichender Aufklärung, wegen einer Entscheidungsfindung ausschließlich unter Fachkräften und weil unrechtmäßige finanzielle Überlegungen die Entscheidungsfindung beeinflussen). Zur exkludierenden Funktion werden die Mitwirkungsverpflichtungen der Betroffenen, wenn die Anforderungen an die Mitwirkung – gewissermaßen als Stellschraube restriktiver Hilfegewährung – einseitig von den Jugendämtern „hochschwellig“ gemacht werden (z. B. lange Wartezeiten auf Erstgespräch, Ausschluss aus Hilfegewährung bei geplatztem Gesprächstermin, weitere Bearbeitung des Hilfebedarfs erst, wenn alle Unterlagen vorgelegt werden). Und dann „frech“ behauptet wird, die Hilfesuchenden wollten nicht mitwirken. Die an sich erforderliche Mitwirkung des Hilfesuchenden wird gegen ihn/sie gerichtet, mit der Unterstellung, wer nicht genügend mitwirkt, für den kann ja eine Jugendhilfe nicht sinnvoll sein.

Wenn es demzufolge nicht die gesetzlichen Ansprüche auf „Mitwirkung der Betroffenen“ sind, die einer ausreichenden Realisierung der Betroffenenmitwirkung im Prozess der Hilfefeststellung und -gewährung im Wege stehen, sondern vielmehr deren nicht genügende fachliche Beachtung und Umsetzung in der Praxis, dann braucht es ein Verfahren zur verstärkten Sicherung von Mitwirkungsrechten, insbesondere im Jugendhilferecht (sowie in der SGB II- Anwendung durch die Jobcenter, in der Unterstützung junger Wohnungslosen im Verschiebebahnhofe der zweifelhaften Unzuständigkeiten von Jugend-, Sozial- und Gesundheitsämtern).

 

 

Die Wahrnehmung von Verfahrensrechten

In der Kinder- und Jugendhilfe geht es in der rechtlichen Beurteilung oft um tatbestandliche Beurteilungsspielräume, um unbestimmte Rechtsbegriffe und deren Anwendung auf den Einzelfall (z. B. „soziale Benachteiligung“ und „erhöhter Unterstützungsbedarf“ nach § 13 Abs. 1 SGB VIII). Es ist daher für die Leistungsgewährung wesentlich, dass die Hilfebedürftigen im Prozess der Hilfeplanung und Leistungserbringung beteiligt sind. Da die Hilfebedürftigen aber selten – trotz bestehender persönlicher und sozialer Probleme – zugleich als Souverän des Verfahrens auftreten (können), bedürfen sie des strukturellen Ausgleichs ihrer Verfahrensbenachteiligung durch eine gesetzlich im SGB VIII gesicherte Verstärkung ihrer Betroffenenrechte, bspw. durch die Möglichkeit der Beschwerde. Wer hier nur formal auf eine grundsätzlich bestehende Verfahrensgerechtigkeit verweist (Bindung der Jugendamtspraxis an Gesetz und Recht, an das Verfahrensrecht des SGB I und SGB X, insbesondere vorrangig

des SGB VIII selbst sowie formal den garantierten Rechtsschutz des Widerspruchs und das Klagerecht der Bürger/innen), verkennt die Maßgeblichkeit der strukturellen Machtasymmetrie der Kinder- und Jugendhilfe-Professionen und die nachweisbare Erfahrung, dass sich Fachkräfte öffentlicher und freier Träger nicht immer an das Verfahrensrecht und an die fachlichen Standards halten.

Das Jugendhilferecht und die sich daraus ableitbare Jugendhilfepraxis bedürfen im Interesse hilfsbedürftiger junger Menschen eines doppelten Schutzes: Als vergleichsweise vorbildliches Sozialleistungsgesetz gegenüber dem Workfare-Denken des SGB II sowie als eine gesetzliche Aufgabenverpflichtung der öffentlichen Jugendhilfeträger. Auch wenn wir wissen, dass die „eigenverantwortliche Persönlichkeit“ des SGB VIII nicht gesellschaftstranszendierend ist, bleibt der Unterschied zwischen dem Erziehungsgedanken und Zwang.

 

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* Löns/Herold-Tews, SGB II, § 1 Rn. 4.

** Kompendium Aktive Arbeitsmarktpolitik nach dem SGB II, Bundesagentur für Arbeit, September 2004, S. 13, 14.

*** T. Hofmann/N. Struck fragen: „… wie sich diese jungen Menschen ihren Lebensunterhalt sicherstellen sollen. Schulden? Jobben? Diebstahl? Schnorren? Betteln?“. In: Die Auswirkungen von Hartz IV auf die Kinder- und Jugendhilfe, Jugendhilfe 42, 5/2004, S. 237 (241).

**** So die Hinweise für NRW von T. Pütz, Arbeitsförderung braucht Jugendhilfe. In: jugendsozialarbeit aktuell, LAG KJS NRW, Nr. 45/Oktober 2004.

***** BVerwGE 109, S. 325–330.

 

Literatur

  • Deutscher Bundestag (2003): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Drucksache 15/1516.
  • Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) (2014): Zentrale Ergebnisse der unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB III in NRW (http://www.harald-thome.de/media/files/2013_Studie_ISG__Sanktionen_NRW.pdf, Zugriff am 30.06.2014).
  • Leicht, R. (2003): Das Prinzip Zahnbürste. Alle reden von Eigenverantwortung. Aber was ist das? Eine kleine Begriffsgeschichte. In: Die Zeit v. 22.12.2003 (http://www. zeit.de/2004/01/Das_Prinzip_Zahnbuerste, Zugriff am 20.05.2014).
  • Wiesner, R. (2011): SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 4., überarbeitete Auflage. München.