Regionale Disparitäten

ForE 4-2002

"Unverkennbar seit der deutschen Wiedervereinigung, im Grunde genommen jedoch bereits im Zuge regionaler Arbeitsmarktanalysen seit Mitte der 70er Jahre hat sich gezeigt, welche Bedeutung Räumen und Regionen mit Blick auf Prozesse sozialer Differenzierung zukommen kann. In nicht wenigen Fällen -in krasser Form im internationalen Maßstab zwischen armen und reichen Ländern bzw. Weltreligionen - entscheidet der Wohnort über die Chancen am Arbeitsmarkt, über die sozioökonomischen Aspekte der individuellen Lebenslage - etwa über Lebenshaltungskosten, Mieten, Kosten aufgrund der Entfernung des Arbeitsplatzes etc. - oder über die Möglichkeiten der Wahrnehmung kultureller Angebote. Eine lebenslagenorientierte Sozialberichterstattung muss auch diese Dimension beachten (...)" - so heißt es im Elften Kinder- und Jugendbericht. Wir haben in diesem Heft diese Facette aufgenommen und wollen uns mit ihm, der Empirie und den politischen Herausforderungen nähern, die sich mit Blick auf regionale Disparitäten für die Hilfen zur Erziehung ergeben.

Die Beiträge können freilich nur den Beginn notwendiger Debatten und Arbeiten markieren und lassen auch deutlich werden, wie viel Arbeit noch zu tun ist, wenn die theoretischen und empirischen Anforderungen des Elften Kinder- und Jugendberichts eingeholt werden sollen.

Wir haben die zentralen Aussagen des Elften Kinder- und Jugendberichts zum Thema "regionale Disparitäten" an den Anfang dieses Themenschwerpunkts gestellt, auch weil wir denken, dass dieser Bericht einen kontinuierlichen produktiven Umgang verdient. Er sollte nicht einfach "rezensiert" werden, sondern in seinen Analysen weiter bearbeitet werden.

Ulrich Bürger referiert Teilergebnisse einer umfassenden Untersuchung zu den Hilfen zur Erziehung in Württemberg-Hohenzollern, die die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung altersklassen- und geschlechtsspezifisch für die Stadt- und Landkreise analysieren. Er dokumentiert damit eindrucksvoll die Notwendigkeit solch differenzierender Zugänge. Zugleich betont er, dass solche Zahlen nicht "für sich"sprechen, sondern jeweils der Interpretation in Fachdiskursen bedürfen. Die Fachdiskurse ihrerseits jedoch bedürfen hinreichend exakten empirischen Materials, um relevant zu sein. Die referierten Daten erfordern insoferneine lokale Sozialarbeitspolitik einerseits und präzisierende Forschungen andererseits, insbesondere zur Frage der geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme von Angeboten.

Claudia Porr greift das Thema regionale Disparitäten aus der Perspektive der Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten einer Obersten Landesjugendbehörde auf, die nach § 82 Abs. 2 SGB VIII verpflichtet ist, "auf den gleichmäßigen Ausbau der Einrichtungen und Angebote hinzuwirken". Sie berichtet - im Sinne eines "good-practice"-Modells überregionaler Steuerung der Jugendhilfe - über die "Erziehungshilfeoffensive" des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, welches Elemente überregionaler Jugendhilfeplanung, Praxisentwicklung durch Modellprojekte, Fachkräfte-Qualifizierung und Forschung miteinander verbindet. Eine günstige Voraussetzung für eine solche vom Land ausgehende „Offensive" ist sicherlich die rheinland-pfälzische Besonderheit, dass das Land den Kommunen 25 % der Einzelfallkosten der Hilfen zur Erziehung erstattet.

Schließlich referiert Eric van Santen Daten zur Angebotsstruktur, zur Inanspruchnahme und zu Konzepten im Bereich der Hilfen zur Erziehung imb undesweiten Vergleich der Landkreise, die auf der Grundlage der Kinder-und Jugendhilfestatistik und von Datenerhebungen im Rahmen des DJI-Projekts "Jugendhilfe und sozialer Wandel" gewonnen wurden. Auch er verweist letztlich auf die Notwendigkeit fachlicher Interpretationen der jeweiligen Daten auf verschiedenen Ebenen.

Entscheidend für die weitere Diskussion wird es sein, einen fachlichen Konsens darüber zu erzeugen, welche regionalen Unterschiede als notwendiger Ausdruck einer grundlegend kommunal verfassten Kinder- und Jugendhilfe sachangemessen und "hinnehmbar" sind, und welche Indikatoren kontinuierlich erzeugt werden müssen, um in einem sozialpolitischen Diskurs Ungerechtigkeitsverhältnisse regionaler Disparitäten erkennbar zumachen, um ihnen politisch entgegenzuarbeiten.

Norbert Struck, Wolfgang Trede

 

Aus dem Inhalt

Friedhelm Peters:
Mit der Liberalität stirbt offenbar auch der Verstand ... Zur geplanten Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung in Hamburg

Ulrich Bürger:
Praxis der Hilfegewährung im Leistungskanon der erzieherischen Hilfen – Disparitäten in altersklassen- und geschlechtsspezifischer Analyse

Claudia Porr:
„Regionale Disparitäten und Steuerungsmöglichkeiten des Landes“ am Beispiel der rheinland-pfälzischen Erziehungshilfeoffensive

Eric van Santen:
Regionale Disparitäten in der Kinder- und Jugendhilfe – Angebote, Inanspruchnahme, Konzepte

Norbert Struck:
Bewegung in der europäischen Jugendpolitik? EU-Weißbuchprozess

Hans-Ullrich Krause:
Spart sich Berlin die Jugendhilfe? Eine Dokumentation und ein Kommentar

IGfH :
Hamburg auf dem Weg zurück zur alten Zwangsfürsorge. Stellungnahme der IGfH zur geplanten Einrichtung von neunzig geschlossenen Heimplätzen in Hamburg

Peter Gizzi:
„Das können Sie doch mir und meiner Familie nicht zumuten“. Probleme von Erziehungswohngruppen und wie sie gelöst werden können

Erscheinungsjahr
2002
Ausgabe
4
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2002