Pädagogische Argumente gegen Geschlossene Unterbringung

Auszug aus der IGfH-Broschüre "Argumente gegen geschlossene Unterbringung in Heimen der Jugendhilfe"

Das vielleicht zentrale Argument gegen die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Jugendhilfe ist ein pädagogisch-ethisches und lautet zugespitzt: "Erziehung ist nur in Freiheit möglich." Erziehung solle entsprechend Freiwilligkeit und Vertrauen voraussetzen und ein auf einer positiven menschlichen Beziehung basierender Interaktionsprozess sein (z.B. im Sinne Hermann Nohls "pädagogischem Bezug" oder Martin Bubers dialogisches Prinzip) oder zumindest diesem Ziel möglichst nahekommen.
Diese dem Humanismus, der Aufklärung und der Reformpädagogik verpflichtete praktische Erziehungsphilosophie wendet sich gegen eine an Bestrafung, Zwang und Unterordnung orientierte Erziehungsauffassung, die - wenngleich häufig hinter pädagogisch-therapeutischen Scheinargumenten versteckt - letztlich der geschlossenen Unterbringung zugrundeliegt. Das von Befürwortern der GU immer wieder vorgebrachte Argument: "Ich kann nur den erziehen, den ich habe." geht ja offensichtlich von der Unterstellung aus, daß wenn man "jemanden habe", nämlich zwangsweise festhalte und so seine physische Präsenz sichere, ihn auch erziehen könne.
Es ist nun unbestritten, daß auch unter Zwang Lern- und Bildungsprozesse stattfinden. Nur stellt sich die Frage nach den Resultaten einer solchen "schwarzen Pädagogik" (Rutschky). Führt sie nicht eher zu nur auf externen Druck reagierenden Personen, wie sie Horkheimer & Adorno in ihrer großen Studie über die autoritäre Persönlichkeitsstruktur herausgearbeitet haben?

Neben dieser aus einer pädagogisch-ethischen Haltung heraus gespeisten Ablehnung von GU gibt es aber zumindest drei weitere erfahrungswissenschaftlich gestützte Argumente gegen Geschlossene Unterbringung:

Sozialisation ist zunächst ein an den jeweiligen Sozialraum gebundener Prozess. Man könnte auch sagen: jeder lernt das Leben und die Lebenswältigung für das Lebensfeld, in dem er lebt. Was kann ein junger Mensch, der Wochen oder vielleicht sogar Monate in einer Wohnung mit anderen Jugendlichen (aus pädagogischen Gründen!) eingesperrt ist, für das "Leben draußen" lernen? Ein Kollege einer geschlossenen Gruppe würde hierauf vielleicht antworten: "Das Mädchen oder der Junge hat hier erstmals Verläßlichkeit erfahren." Was ist das aber für eine "Verlässlichkeit"? Verlässlichkeit unter Zwang, also z.B. eine abgesprochene Aufgabe termingemäß erledigt zu haben, läßt sich nicht so einfach unter freiheitlichen Bedingungen reproduzieren. Eher im Gegenteil. Das Mädchen/der Junge lernt "zu spuren", sich den Zwangsbedingungen anzupassen, nicht jedoch das Leben in einer offenen und pluralen Gesellschaft. Trotz in der Regel vorhandener therapeutischer Angebote und trotz guter Absichten der dort Tätigen liegen in den therapiefreien "anderen 23 Stunden" des Tages in geschlossener Unterbringung die Gefahr, daß junge Menschen unter dem stummen Zwang der Verhältnisse eine Art Knastpersönlichkeit ausbilden. Und die Gefangenensozialisation und das dadurch induzierte Problem der Resozialisierung hat Max Busch prägnant zusammengefasst: "Der Knast ist der einzige Ort, wo man sitzen muss, um laufen zu lernen."
Selbst wenn wir davon ausgehen, daß die Befürworter der GU mit ihrer Annahme recht hätten, sie könnten zu denjenigen, die sie hätten, eine tragfähige, pädagogisch wirksame Beziehung aufbauen, so wird dies schon aufgrund der Verweildauern in GU verunmöglicht. Wir wollen pointiert zusammenfassen: Drei Monate eingesperrt zu sein, ist zwar drei Monate zu lang, aber viel zu kurz, um in dieser Zeit eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. Dies wird auch von in GU Tätigen eingeräumt: "Unser Auftrag ist Aufbewahrung, nicht Therapie, Verselbständigung und Probleme bewältigen ..." (Wolffersdorff/Sprau-Kuhlen, Geschlossene Unterbringung in Heimen, Juventa 1990, S. 131).
Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass unter Zwang und innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit tragfähige pädagogische Beziehungen aufgebaut werden könnten, so würden diese durch die hohen Entweichungsraten aus geschlossenen Einrichtungen verunmöglicht. Die Studie von Wolffersdorff & Sprau-Kuhlen hat gezeigt, daß Jugendliche aus der GU im gleichen Ausmaß weglaufen wie aus offenen Settings.

"Innerhalb des Untersuchungszeitraums von 1 Jahr wurden bei 741 Jugendlichen insgesamt annähernd 1.000 Entweichungen aktenmäßig registriert, an denen etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen beteiligt war (...). Etwas mehr als die Hälfte derer, die aus früheren Heimen nicht weggelaufen waren, liefen auch nicht aus der geschlossenen Gruppe weg. 38% aber entwichen aus der geschlossenen Unterbringung 1- bis 18-mal. Zwei Drittel derer, die aus der offenen Abteilung eines Heimes wegliefen, taten dies auch dann, wenn sie in der geschlossenen Gruppe desselben Heimes verlegt worden waren" (a.a.O., S. 305)

Im Ergebnis konstatieren die Autoren ein annähernd gleiches Fluchtverhalten in der geschlossenen und in vorherigen offenen Heimgruppen. Damit wird aber die immer wieder ins Feld geführte Hauptindikation für geschlossene Unterbringung, Jugendliche, die ständig weglaufen, einzusperren, hinfällig.