Keine Herabsenkung der Strafmündigkeit! Vorrang der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Strafrechtssystem
Der Wahlkampf zur Bundestagswahl am 23. Februar 2025 hat die Forderung nach der Absenkung der Strafmündigkeit wieder in die öffentliche Diskussion gespült. Unterschiedliche Parteien haben sich für eine solche Absenkung ausgesprochen. Aber auch unabhängig vom Wahlkampf führen Straftaten Minderjähriger, die in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregen, oftmals zur reflexhaften Forderung einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze.
Gemäß § 19 Strafgesetzbuch (StGB) sind Kinder ab einem Alter von 14 Jahren unter bestimmten Umständen strafmündig und können für ihr Handeln im Kontext des Strafrechtes zur Rechenschaft gezogen werden. Unterhalb dieser Altersgrenze ist davon auszugehen, dass grundsätzlich eine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des eigenen Handelns und damit eine Strafmündigkeit nicht gegeben ist.[i] Die Jurist*innen Hauke Bock und Karin Höffler weisen darauf hin, dass die Regelung in § 19 StGB keine psychologisch-biologische Entscheidung ist, sondern eine normative. Dies bedeutet insbesondere, dass „auch bei Jugendlichen über 14 Jahren [..] die strafrechtliche Verantwortlichkeit gem. § 3 JGG im Einzelfall mangels Reife verneint werden [kann]“[ii]. Das Strafrecht erklärt nicht, dass junge Menschen über 14 Jahren strafmündig sind, sondern, dass Kinder unter 14 Jahren dies nicht sind. Die individuelle Situation und Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind zur Einschätzung der Strafmündigkeit ab 14 Jahren leitend.
Einsichtsfähigkeit bedeutet „in der Lage zu sein zu erkennen, dass sein Verhalten mit einem geordneten und friedlichen Zusammenleben der Menschen nicht vereinbar ist und deshalb von der Rechtsordnung nicht akzeptiert werden kann. Die Steuerungsfähigkeit liegt vor, wenn der Täter in der Lage ist, sich gemäß dieser Unrechtseinsicht zu verhalten“[iii].
Unterstützung statt Kriminalisierung
Den Befürwortern der Absenkung zufolge sind junge Menschen heute immer früher einsichts- und steuerungsfähig und müssten daher auch früher zur Verantwortung gezogen werden. Dem muss in mehrfacher Hinsicht widersprochen werden.
So gibt es für eine früher eintretende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit keinerlei Hinweise. Im Gegenteil: Die Jugendphase hat sich erkennbar verschoben und die Selbstständigkeit junger Menschen wird heute deutlich später erwartet. So liegt beispielsweise das Auszugsalter aus dem Elternhaus mittlerweile weit im jungen Erwachsenenalter (aktuell 23,9 Jahre)[iv].
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass es Anzeichen dafür gibt, dass insbesondere die COVID-Pandemie einen nachhaltig negativen Einfluss auf die emotional-soziale Stabilität junger Menschen hatte[v]. So berichten Kinder- und Jugendtherapeut*innen von einem erheblichen Zulauf an jungen Patient*innen und Kinder- und Jugendpsychiatrische Kliniken haben teils lange Wartelisten. Vor diesem Hintergrund muss eher davon ausgegangen werden, dass bei vielen Jugendlichen im Alter von 14 Jahren die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit noch nicht gegeben ist.
Damit einhergehend stellt sich die Frage der Wirksamkeit von strafrechtlichen Maßnahmen bei Kindern unter 14 Jahren. Die internationale Studienlage weist darauf hin, dass ein früherer Kontakt mit dem Strafrechtssystem kontraproduktiv ist (ebd.). So führen strafende Interventionen nicht etwa dazu, dass Kinder und Jugendliche weniger Gewalttaten begehen, sondern zu einem stärkeren Wiederholungsrisiko.[vi] Es schadet nicht nur der Entwicklung der Betroffenen, sondern auch dem Gesamtsystem, wenn Kinder kriminalisiert werden und über Jahre hinweg erhebliche Kosten im (strafrechtlichen) System verursachen.
Anstatt mit dem Fokus auf die Bestrafung sich lediglich auf das Symptom zu beziehen, muss also stattdessen an den Ursachen angesetzt werden. Kinder und Jugendliche brauchen wirksame Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, um sie in ihrer Entwicklung – und damit letztlich auch im Erlangen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – zu unterstützen. Es ist kontraproduktiv, wenn sowohl Bundeskanzler Merz[vii] wie auch kommunale Spitzenverbände[viii] mit unsachlichen Attacken fordern, die angeblich überhöhten Ausgaben für die Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfen zu reduzieren. Es braucht im Gegenteil bei den Hilfen für junge Menschen und ihre Familien Investitionen in die Zukunft.
Starke Kinder- und Jugendhilfe statt Strafrecht[ix]
Wenn Kinder und Jugendliche Gewalttaten begehen, ist das immer eine schwierige Situation, die nicht einseitig aufzulösen ist. Die von Gewalt betroffenen Personen müssen in ihrer Situation anerkannt werden und die notwendige Unterstützung bekommen – dies ist leider allzu oft nicht der Fall. Die Ausgestaltung und Finanzierung von Angeboten für Betroffene sind leider oft unzureichend.
Kindern und Jugendliche, die Gewalt ausgeübt haben, befinden sich zweifelsohne in einer Extremsituation. Sie brauchen ebenso Angebote zur Unterstützung, um zum einen die Gewalttat zu bearbeiten, aber auch, um aus Situationen herauszukommen, die zu dieser Gewalttat geführt haben. Hierzu sind ein fundiertes sozialpädagogisches Fallverstehen und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote Voraussetzung. Das Handeln des jungen Menschen darf nicht nur isoliert betrachtet werden, sondern muss als Ereignis in der Lebenssituation betrachtet und verstanden werden. Das familiale und das Peer-System sollten ebenso wie der junge Mensch selbst in den Verstehensprozess der Gewalttat eingebunden werden.
Jugendhilfe im Strafverfahren stärken!
Die Kinder- und Jugendhilfe bzw. Jugendhilfe im Strafverfahren stellt für diese jungen Menschen Hilfen und Unterstützung zur Verfügung. Die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Jugendstrafjustiz ist gesetzlich zwar eng verbunden, aber in der Praxis zeigt sich, dass diese stärker im Sinne der jungen Menschen ausgestaltet werden muss. Dies muss über politische Strategien unterstützt werden, die nicht die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe infrage stellen.
Frankfurt am Main, 6. März 2025
Die Delegiertenversammlung der IGfH hat das Positionspapier in seiner Sitzung am 5.-6. März 2025 beschlossen.
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[i] vgl. Bock/ Höffler 2024: Die Strafmündigkeitsdebatte. Von entwicklungspsychologischen Fragen und normativen Antworten. URL: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0934-9200-2024-3-271.pdf, Stand: 17.10.2025, S. 274f.
[ii] Ebd.: S. 275
[iii] Vgl. ebd: 274, eig. Herv.
[iv] Eurostat (2024): Geschätztes durchschnittliches Alter junger Menschen, die das Elternhaus verlassen, nach Geschlecht. DOI 10.2908/YTH_DEMO_030
[v] Vgl. Sabine Andresen et al. (2023): JuCo IV. URL: https://hilpub.uni-hildesheim.de/server/api/core/bitstreams/bd4f68ee-1af3-4b1a-a4fe-6a12e3fed5cd/content, Stand: 17.10.2025.
[vi] Vgl. Heinz 2019: Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz. URL: https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2020_Sekundaeranalyse_Untersuchungen_jugendkriminalrechtlichen_Massnahmen.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Stand: 17.10.2025.
[vii] Vgl.: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundeskanzler-kommunalkongress-2351564
[viii] Vgl.: https://www.staedtetag.de/positionen/beschluesse/2025/458-praesidium-reform-eingliederungshilfe;
[ix] Siehe hierzu auch „Kinder- und Jugendhilfe und Strafjustiz“ Schwerpunkt des Forum Erziehungshilfen Ausgabe 2/2023.