Einmischen, bewegen, gestalten

Zum Tod von Burglinde Retza
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Schottland

Sie war ein kämpferischer Geist, Feministin, authentisch und wusste, was sie wollte. Geprägt durch die „68er Jahre“ blieb sie nicht bei der Erkenntnis und Analyse von Problemlagen stehen, sondern steckte ihre Energie und Kreativität in Strategien zur Veränderung.

Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester studierte Burglinde von 1968 bis 1971 in Zeiten der Studenten- und Heimrevolten Sozialarbeit an der Höheren Fachschule für Sozialarbeit der Arbeiterwohlfahrt in Düsseldorf. Prägend für sie war der damalige Leiter Hans Pfaffenberger. Politisch sozialisiert wurde sie hier. Die Praktika des Studiums konfrontierten sie mit verkrusteten, benachteiligenden und nicht selten entwürdigenden Strukturen in Einrichtungen und Diensten. Und sorgten für Wut und Empörung. Für viele und auch für Burglinde wurde der „Marsch durch die Institutionen“ Ziel und Ansatz ihrer späteren Berufstätigkeit. Der Anspruch, dafür gut qualifiziert gewappnet zu sein, führte zu der Entscheidung, in Wuppertal ein Pädagogikstudium anzuschließen. Ihre Schwerpunkte wurden Bürgerbeteiligung, Erwachsenenbildung, Kriminalpädagogik und – was sich als weichenstellend erweisen sollte – feministische Arbeitsansätze und Methoden. Ihre parallele Befassung mit Friedenspädagogik führte allerdings zunächst in eine ganz andere Richtung, in eine Anstellung in der Zivildienst-Vorbereitung für Kriegsdienstverweigerer.

Zur Heimerziehung und Mädchenarbeit kam Burglinde – wie sie betonte – „ein wenig ungeplant“: In einem etwas „chaotischen“ Mädchenheim in Düsseldorf wurde gerade eine Mitarbeiterin gesucht. Die Aufgabe reizte sie. Die erzieherischen Hilfen und die Mädchenperspektive sollten von da an Zentrum ihres beruflichen Lebens und ehrenamtlichen Engagements werden. Ihre hauptamtliche Wirkungsstätte wurde für mehr als 20 Jahre das Hessische Fortbildungswerk für soziale Fachkräfte, in dem sie mit einem unglaublich guten Gespür für aufkommende Themen (wie „Männer in der Mädchenerziehung“ oder „Älterwerden im Beruf“) Fortbildungskonzepte entwickelte und umsetzte. Hier lernte ich, gerade frisch als Fachreferentin der IGfH gestartet, 1980 Burglinde kennen und profitierte als Neuling von ihrem großen Wissen über die Situation der Heimerziehung und auch von ihrem Zugang zu Netzwerken.

Schon damals begann sie mit Kursen, die Mädchen in der Jugendhilfe sichtbar  machen und stärken sollten. Die zunehmend sich aufdrängende Erkenntnis, wie erschreckend häufig Mädchen von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind, führte sie zu dem 1985 gegründeten Verein „Wildwasser Wiesbaden“, einer feministischen Beratungsstelle, die Präve‎‎‎ntion und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema zum Ziel hat. Von 1994 bis 2002 war sie dort ehrenamtlich im Vorstand tätig und widmete sich der schwierigen Arbeit der Mittelbeschaffung.

1988 gründete sie in Wiesbaden zusammen mit Mitstreiterinnen den „Verein zur Unterstützung von Mädchen in Not e. V.“. Ziel war zunächst die Eröffnung einer Mädchenzuflucht. Burglinde entwickelte gemeinsam mit Vereinsfrauen das Konzept und kümmerte sich auch hier um die Finanzierung. 4 Jahre sollte es dauern, bis die Einrichtung ihre Arbeit aufnehmen konnte. Nochmal 6 Jahre vergingen, bis 1998 endlich auch ZORA, eine Anlauf- und Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen eröffnet werden konnte. Beharrlichkeit war Burglindes große Stärke. Und sie war eine ausgezeichnete und überzeugte Netzwerkerin, eine (so Luise Hartwig) „Frauennetzwerkerin der 1. Stunde“. Die Mädchenarbeit in Wiesbaden hat ihr viel zu verdanken. Aber sie blickte und wirkte auch über den Tellerrand hinaus: Sie war Gründungsfrau der Hessischen Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik, war in der Gilde Soziale Arbeit aktiv und hat auch zur Profilbildung der IGfH einiges beigetragen.

Seit Anfang der 1980er Jahre Mitglied in der IGfH gründete sie 1990 zusammen mit Vera Birtsch und Luise Hartwig die IGfH-Fachgruppe Mädchen und Frauen und 1995 zusammen mit anderen Mitstreiter*innen die Fachzeitschrift „Forum Erziehungshilfen“. 1991 gaben die Gründungsfrauen der Fachgruppe einen heute durchaus als Klassiker geltenden Band zur Mädchenarbeit (mit dem Titel „Mädchenwelten – Mädchenpädagogik“) bei der IGfH heraus, der gleichzeitig Positionsbestimmung der Fachgruppe war. Mit ein paar Unterbrechungen war Burglinde, auch nach Eintritt in den „Ruhestand“ bis Mitte 2021 Sprecherin der Gruppe und lotste sie erfolgreich durch alle Höhen und Tiefen, vertrat ihre Interessen in der Delegiertenversammlung der IG‎‎fH.

Die Fachgruppensitzungen waren immer etwas Besonderes. Sie waren geprägt von Burglindes Überzeugung der Ganzheitlichkeit des Tuns. Zu effektivem Arbeiten gehörte für sie eine angenehme Atmosphäre, die auch das leibliche Wohl mit umfasste. So versorgte sie die Gruppe immer ausgiebig mit Obst und leckeren Keksen. Ganzheitlichkeit bedeutete für sie aber auch Verknüpfung professioneller Kompetenzen mit persönlicher Haltung. So verblüffte sie in Sitzungen bei ungeheuerlichen Berichten aus der Praxis nicht selten mit der Zwischenfrage: „Und was macht das mit Dir?“.

Die Fachgruppe hat im Laufe ihres 30-jährigen Bestehens eine Vielzahl von Mädchenbelange und -rechte tangierenden Themen bewegt: von klassischen Jugendhilfethemen wie Inobhutnahme, Hilfeplanung, Sozialraumorientierung über Lebenslagenthemen wie Armut von Mädchen, Frühe Schwangerschaften, Psychiatrisierung, Familialisierung von Mädchen, seelische Behinderung bis zu zugespitzten Problemlagen wie Prostitution, Menschenhandel, Mädchen mit dem Lebensmittelpunkt Straße. Fortbildungsveranstaltungen oder Expert*innengespräche wurden dazu organisiert. Burglinde dehnte ihr Networking bundesweit aus und verstand es immer wieder, innovativen Ansätzen verpflichtete Referenten*innen für die Fachgruppe aufzuspüren. Aus einem von Burglinde initiierten bundesweiten Austausch von Sleep-Ins und anderen niedrigschwelligen Projekten für Mädchen auf der Straße ist  2001 das von ihr zusammen mit Monika Weber bei der IGfH herausgegebene Buch „Mädchen auf der Straße – im Blick von Jugendhilfe, Forschung und Mädchenarbeit“ hervorgegangen. Andere von der Fachgruppe bearbeitete Themen wurden z. T. zu Schwerpunktthemen des ForE.

Nicht zu vergessen sind die schon fast legendären, von der Fachgruppe seit 1994 (im Turnus von ca. 2 Jahren) durchgeführten einwöchigen Studienreisen ins europäische und außereuropäische Ausland - zum Austausch und zur Begegnung mit Projekten, die mit Mädchen und jungen Frauen in prekären Lebenssituationen arbeiten. Ohne Burglinde hätte es die Reisen nicht gegeben. Die erste Reise führte nach London, die bisher letzte nach Dublin. Dazwischen liegen u. a. St. Petersburg, New York, Istanbul und Warschau.

Am 20.05.2022 ist Burglinde Retza gestorben, knapp ein Jahr nach ihrer Krebsdiagnose. Sie wurde 1945 in Osnabrück geboren und wuchs dort zusammen mit ihrem Zwillingsbruder und zwei weiteren Brüdern auf. Als einziges Mädchen in der Familie lernte sie schon früh, Verantwortung zu übernehmen. Sie war warmherzig und zugewandt. „Sie sah die Menschen mit ihren Besonderheiten und Fähigkeiten. In ihrer Nähe hatte man immer das Gefühl gesehen zu werden.“ „Sie war fragend und zuhörend.“ (so Mitstreiterinnen aus der Fachgruppe).

Neben all ihrem Kampf für das Gelingen von Projekten und Arbeitsvorhaben war sie auch die Frau der kleinen Dinge. Fast immer brachte sie zu Fachgruppensitzungen  kleine Mitbringsel mit, hübsche praktische Dinge oder auch, seit sie in Schmidthachenbach im Hunsrück lebte, kleine geschliffene Edelsteine aus der dortigen Region. Und sie strickte leidenschaftlich gerne Socken in allen Größen und Farben. Kaum jemand, der sie näher kannte, blieb unversorgt. Sie war eine große Katzenfreundin und umsorgte auch sie, bot ihnen auf ihrem Grundstück Herberge, oder auch Zuflucht. Sehnsuchtsort blieb für sie das vor längerer Zeit im Nordwesten Schottlands erworbene Haus, direkt oberhalb der Küste mit wunderbarem Blick aufs Meer. So oft es ging, hielten sie und ihr Mann sich dort auf. Schön, dass sie im März/April noch einmal dort sein konnte.

Mit Burglinde haben wir eine ganz besondere, unverwechselbare Persönlichkeit und Fachfrau verloren. Sie hinterlässt eine große Lücke.

Hannelore Häbel